Page 27 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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Potsdam und Weimar um 1780              25

               die Nichte Friedrichs des Großen, setzte sich als Herzogin von Sachsen-Wei-
               mar-Eisenach mit besonderem Elan für die deutsche Literatur ein, indem sie
               den Schriftsteller Johann Karl August Musäus als Pagenhofmeister (1763) bzw.
               als Gymnasialprofessor (1769) nach Weimar engagierte und 1772 den damals
               schon berühmten Dichter Wieland zum Prinzenerzieher berief. Mit ihm und
               einer Reihe musisch begabter Hofleute gelang ihr die Begründung des ›Musen-
               hofs‹, dem Goethe seit 1775 und Herder seit 1776 zugehörten. Das geistige
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               Florieren dieses ›Weimarer Musenhofes‹  trotz beschränkter Mittel war weit
               über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Im Mai 1776 führte Anna Amalias
               Liebhabertheater Goethes Bühnenstücke Die Geschwister und Erwin und Elmire
               mit großem Erfolg auf (letzteres als Singspiel mit der von Anna Amalia höchst-
               selbst komponierten Musik). Dass man davon auch am preußischen Hof er-
               fuhr, dafür sorgten unter anderem die brieflichen Berichte der Gräfin Friederike
               Görtz an ihren Ehemann, der zur berühmten Tafelrunde Friedrichs gehörte.
               Sie hielt ihn ständig auf dem Laufenden über die Ereignisse am Weimarer Hof,
               aus dessen Diensten Herzog Carl August ihn entlassen hatte. Aufgrund dieser
               Berichte seiner in Weimar verbliebenen Frau fungierte Graf Görtz jahrelang als
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               Informant des preußischen Königs über alle Vorgänge am Weimarer Hof.
                   Abgesehen davon veröffentlichte das Berlinische Litterarische Wochenblatt
               kulturelle Nachrichten aus Weimar, so z. B. im Juli 1776 einen Brief, in dem es
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               hieß:  »Ich habe Erwin und Elmire mit Göthe’s Vermehrungen, und nach
               der schönen Musik der verwitttweten Herzogin, aufführen gesehen, und muß
               die Vorstellung loben.« – Doch schon im Jahr zuvor war Goethes Erwin und


               33  Zu Bild und Begriff vgl. Robert Charlier, Die Muse von Weimar. Vom Philosophenhof
                   zur Musenstadt der deutschen Klassik, in: Günther Lottes und Iwan D’Aprile (Hg.),
                   Hofkultur und aufgeklärte Öffentlichkeit. Potsdam im 18. Jahrhundert im europäischen
                   Kontext, Berlin 2006, 169-186 (ebd. insbesondere Hinweise zur historischen Genese
                   des Begriffskonzepts innerhalb der Goethe-Philologie des 19. Jahrhunderts [169, Anm.
                   1], zur ›Musenhof-Legende‹ [172, Anm. 11] sowie zu alternativen Konzepten, wie z. B.
                   ›Musensitz‹ [173, Anm. 16] oder ›Musentempel‹ [173, Anm. 17]. Zur neueren Forschung
                   vgl. ebd. 170-172.
               34  Am 16. November 1776 berichtete Friederike Gräfin Görtz an J. E. Graf von Schlitz,
                   genannt von Görtz: »[...] Elmire, avec une nouvelle petite piece du Sieur Goethe appelé
                   die Geschwister, ou il fera le principal acteur […].« (Zitiert nach: Gisela Sichardt: Das
                   Weimarer Liebhabertheater unter Goethes Leitung (Beiträge zur deutschen Klassik; 5).
                   Weimar 1957, 140).
               35  Datiert vom 15. Juli 1776 (vgl. Goethe im Urtheile seiner Zeitgenossen. Zeitungskritiken,
                   Berichte, Notizen, Goethe und seine Werke betreffend, aus den Jahren 1773–1786, ge-
                   sammelt und hg. v. Julius W. Braun. Bd. 1, Berlin 1883, 290).
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