Page 24 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
P. 24

22                      Katharina Mommsen

                 unübertrefflicher Darstellungsgabe, der als Präsident der Altertümer in Rom,
                 als Gründer der klassischen Archäologie und vergleichenden Kunstgeschichte
                 allerhöchstes Ansehen in ganz Europa genoss, nicht zu erwähnen, zeugt von
                 schier unglaublicher Starrköpfigkeit des preußischen Königs. Mit Blick auf das
                 deutsche Theater fährt Friedrich fort (83):
                    Melpomene ist nur von sehr plumpen Liebhabern umworben worden, die einen schrit-
                    ten auf Stelzen einher, die andern krochen im Schlamme, aber alle verstießen gegen ihre
                    Gesetze, wobei sie weder zu fesseln noch zu rühren vermochten [...]. Thaliens Liebhaber
                    waren glücklicher. Sie haben uns wenigstens ein wirkliches und echtes Lustspiel geliefert
                    [...] den Postzug. 28
                 Nur dieses Stück des Österreichers Ayrenhoff von 1769 brauche den Vergleich
                 mit Molière nicht zu scheuen. Der königliche Kunstrichter ignoriert dabei völ-
                 lig, dass Lessing 1767 mit Minna von Barnhelm – der »wahrsten Ausgeburt des
                 siebenjährigen  Krieges«  –  ein  Lustspiel  von  »vollkommenem  norddeutschen
                             29
                 Nationalgehalt«  gelungen war. Überhaupt stellt er den Zustand der Literatur
                 um 1780 so dar, als sei noch kein deutscher Schriftsteller aus der »wässerigen,
                                           30
                 weitschweifigen, nullen Epoche«  von 1750 herausgetreten.
                    Immerhin lastet Friedrich die kulturelle Rückständigkeit der Deutschen
                 auch den Kriegen an, die schreckliche Verwüstungen und viel Unheil auf deut-
                 schem Boden angerichtet hätten, denn er weiß: »Die Musen verlangen ruhige
                 Heimstätten; sie fliehen Orte wo Verwirrung herrscht« (84). Erstaunlich ist da-
                 bei, wie wenig es ihn anficht, durch die vier von ihm selber provozierten Kriege
                                                      31
                 an der Misere weitgehend mitschuldig zu sein.  Dabei lag seine Heimkehr aus
                 dem sinnlosen Bayerischen Erbfolgekrieg beim Erscheinen von De la littérature
                 allemande gerade erst ein Jahr zurück.
                                               32
                 28  Mit Bezug auf Cornelius Hermann von Ayrenhoffs Lustspiel Der Postzug oder die noblen
                    Passionen, 1769.
                 29  Goethes Charakterisierung des Werks erfolgt im 7. Buch von Dichtung und Wahrheit
                    (Goethes Werke [Weimarer Ausgabe], hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von
                    Sachsen, 4 Abteilungen in 143 Bdn., Weimar 1887–1919, I. Abt., Bd. 27 [1889], 107).
                 30  Goethes Charakterisierung der Epoche vor Klopstock, Lessing und Wieland im 7. Buch
                    von Dichtung und Wahrheit (Goethes Werke [wie Anm. 29], I. Abt., Bd. 27, 88).
                 31  Auch Eberhard Lämmert staunt: »[…] wie wenig es den Autor dieser Epistel anficht,
                    dass womöglich gerade seine Kriegskunst in den letzten Jahrzehnten das Übel vergrö-
                    ßern half.« (Eberhard Lämmert: Friedrich der Große und die deutsche Literatur, in: Brun-
                    hilde Wehinger, Geist und Macht. [wie Anm. 6], 15.)
                 32  Der erste Schlesische Krieg währte von 1740–1742, der zweite Schlesische Krieg von
                    1744–1745, der dritte Schlesische Krieg von 1756–1763 und der Bayerische Erbfolgekrieg
                    von 1778–1779. Im Frieden von Teschen (1779) erhielt Österreich das bisher bayerische
                    Innviertel.
   19   20   21   22   23   24   25   26   27   28   29