Page 23 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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Potsdam und Weimar um 1780 21
erscheint es ihm, wenn jeder Professor sein eigenes Lehrverfahren entwickele.
Denn, so der König wörtlich: »Ich bin der Meinung, daß es nur eine gute
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Methode gibt, an die man sich halten muß« (89). »Meine Idee wäre, jedem
Professor vorzuschreiben, woran er sich bei seinen Vorlesungen halten soll.«
(101) – Zur deutschen Belletristik erklärt der König, ohne mit der Wimper
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zu zucken (81f.):
Seien wir aufrichtig und gestehen wir ehrlich, daß bisher die schönen Künste nicht
auf unserem Boden gediehen sind. [...] was die schöne Litera tur angeht, wollen wir
unsere Dürftigkeit ruhig zugeben. Alles, was ich Ihnen zugestehen kann, ohne mich
zum niedrigen Schmeichler meiner Landsleute zu machen, ist, daß wir in der kleinen
Gattung Fabeln einen Gellert gehabt haben, der neben Phaedrus und Aisopos einen
vergleich baren Rang einzunehmen wüßte. Die Dichtungen von Canitz sind erträglich
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[...], weil er sich bemüht, Horaz nahezukommen. Auch wolle er die Idyllen Geßners
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nicht übergehen[,] die einige Anhänger finden.
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Er selber zöge allerdings diesen Werken die Schriften von Catull, Tibull und
Properz vor. Es täte ihm »leid, kein größeres Verzeichnis von unseren guten
Leistungen vorlegen zu können« (83). An den wenigen von ihm genannten
deutschen Autoren, von denen zwei schon gestorben waren, erkennt man,
dass sein Maßstab stets die Orientierung an klassischen Mustern ist. Umso
auffallender ist, dass er in diesem Kontext Klopstocks Oden und Hexameter-
Dichtungen nicht erwähnt, die seit den 1750er Jahren in ganz Deutschland
als eine sprachliche Offenbarung empfunden wurden. Noch unbegreiflicher
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erscheint es, dass der seinen Landsleuten antike Muster empfehlende König
die ungeheuren Verdienste eines seiner eigenen Landeskinder, Johann Joachim
Winckelmanns, völlig verschweigt, obwohl Winckelmann durch die in herr-
lichstem Deutsch geschriebene, in viele Sprachen übersetzte Geschichte der
Kunst des Altertums (1764) in weitesten Kreisen eine Welle der Begeisterung für
antike Kunst ausgelöst hatte. Diesen erstrangigen deutschen Schriftsteller von
22 Im Original: »Je suis de l’opinion, qu’il n’y a qu’une bonne méthode, et qu’il faut s’en
tenir à celle-la.« (LA 51)
23 Allen Professoren mit Ausnahme der Mathematiker und Theologen erteilt er Vorschrif-
ten: den Philosophieprofessoren drei Seiten lang, den Medizinern eine knappe Seite,
den Juristen zwei Seiten und den Historikern dreieinhalb Seiten.
24 Gellert starb im Jahre 1769.
25 Canitz war bereits 1699 gestorben.
26 Geßners Idyllen waren 1756 erschienen sowie 1772 Neue Idyllen.
27 Gottscheds Bemühung, sie ihm im Oktober 1757 nahezubringen, blieb vergebliche Lie-
besmühe (s. Anm. 5).