Page 26 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
P. 26

24                      Katharina Mommsen

                 spontanen, durchgreifenden sensationellen Publikumserfolg erlebt – nicht nur
                 in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern – wie die 1774 erschienenen
                 Leiden des jungen Werthers, die der 24-jährige Goethe innerhalb weniger Wo-
                 chen zu Papier gebracht hatte – ein Geniestreich auch in sprachlicher Hinsicht
                 durch die völlig originale rhythmische Prosa mit stark lyrischen Elementen, so
                 dass man Mitte der 1770er Jahre, als das Wort »Genie« in Mode kam, zuerst
                 an den Autor des Werther dachte, desjenigen literarischen Werkes, mit dem die
                 moderne deutsche Prosa eigentlich erst begann. Vorher war starker Ausdruck
                 von Gefühl und Empfindung nur im Zusammenhang mit Religion akzepta-
                 bel gewesen. Nun wurde der Werther zu einem europaweit vielgelesenen Buch.
                 Seine Magie wirkte auf allen Stufen der Gesellschaft vom Kammermädchen bis
                 zur Fürstin, vom Philosophen bis zum Kutscher, um einen zeitgenössischen Be-
                 richt zu zitieren. Sofort gab es zahlreiche Nachdrucke und Übersetzungen in
                 andere europäische Sprachen. Ganz Europa wurde vom sogenannten Werther-
                 fieber ergriffen. Porzellan und Fächer wurden mit Szenen aus Werther deko-
                 riert, Pilgerfahrten setzten ein zu den Schauplätzen der Hand lung: Wetzlar und
                 Garbenheim. Der Werther-Kult ging so weit, dass sentimentale junge Männer
                 den Selbstmord suchten und sich mit der Pistole richteten, um Werthers Bei-
                 spiel zu folgen. Wegen seiner Gefährlichkeit wurde das Werk sogar 1775 in der
                 Buchmessestadt Leipzig verboten, und 1776 durfte es in Kopenhagen nicht
                 gedruckt werden. Eine italienische Übersetzung wurde vom Mailänder Bischof
                 sofort aufgekauft, um zu verhindern, dass das Buch unter die Leute kam. Selbst
                 die Herrenmode unterwarf sich dem Einfluss des Werther. Goethe hatte seinen
                 Helden in einen blauen Überrock mit Messingknöpfen, nankinggelber Weste
                 und Hosen gekleidet, dazu braune Stulpenstiefeln, runder grauer Filzhut und
                 ungepudertes Haar. Im Sommer 1775, als er mit drei adligen Freunden in die
                 Schweiz reiste, trat er selber derart gekleidet auf, und die Aristokraten folgten
                 seinem Beispiel. Dadurch kam die Werther-Tracht in ganz Europa in Mode.
                 Kaum war Goethe im Herbst 1775 in Weimar eingetroffen, übernahm der jun-
                 ge regierende Herzog Carl August auch seinerseits diese Mode zu bestimmten
                 Gelegenheiten. Der übrige Hof folgte seinem Beispiel, und zeitgenössischen
                 Berichten zufolge ließ der Herzog denen, die sich keine Werther-Tracht leisten
                 konnten, auf seine Kosten eine anfertigen.
                    Dieser  Herzog  Carl  August,  dem  der  Autor  des  Götz  und  Werther  als
                 Freund und Mentor bald unentbehrlich wurde, war zugleich ein Großneffe des
                 alten Fritz. Die Herzogin-Mutter Anna Amalia war eine Tochter der bereits
                 wiederholt erwähnten Braunschweiger Herzogin Charlotte. Anna Amalia aber,
   21   22   23   24   25   26   27   28   29   30   31