Page 22 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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20                      Katharina Mommsen

                 der »Nachahmung großer Vorbilder« (93). Ihm schweben Übersetzungen größ-
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                 ten Ausmaßes vor (94f.),  denn es gelte: »alle klassischen Autoren der alten
                 und neuen Sprachen in die unsrige zu übersetzen, was insofern von doppeltem
                 Vorteil für uns ist, als wir unsere Sprache bilden und die Kenntnisse allgemeiner
                 verbreiten.« (110) Er meint: »Wenn wir alle guten Autoren bei uns einbürger-
                 ten, so brächten sie uns neue Ideen und bereicherten uns mit ihrer Schreib-
                 weise, ihrer Anmut und ihren Vorzügen« (110). »Derartige Übersetzungen, so
                 deklariert er, werden dann als Muster dienen, nach denen unsere Schriftsteller
                 sich bilden können« (95), damit endlich auch die Deutschen »den Grazien op-
                 fern lernen« (98).
                    Noch einen anderen Umstand beklagt der König, der dem Fortschritt der
                 Literatur schädlich sei, nämlich die Tatsache, dass nicht sorgfältig studiert wer-
                 de (87). Das verursache »Mängel«, die er unserer Sprache und dem Stil unserer
                 Schrift steller vorwirft (87). Er fordert darum Schul- und Universitätsreformen,
                 die wiederum auf Nachahmungen ausländischer Muster mit Hilfe von Überset-
                 zungen herauslaufen. Beispielsweise haben sich alle Schullehrer und Rhetoriker
                 an Quintilian, Demosthenes und Cicero zu halten, um Beredsamkeit zu lernen
                 (97f.); Geschichtslehrern sei die Lektüre von Livius, Sallust und Tacitus vorzu-
                 schreiben, um ihren Geschmack an deren hohem Stil und Schönheit der Dar-
                 stellung zu bilden.  Die jungen Leute sollen die Universalgeschichte von Bos-
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                 suet und die Römischen Revolutionen des Abbé de Vertot lesen (99). Dadurch
                 würde man ihren Geschmack bilden und sie lehren, wie man schreiben muss
                 (99). Um Logik zu erwerben, empfiehlt er Christian Wolffs Logik von 1712,
                 die er, Friedrich, in französischer Übersetzung studiert hatte. Schullehrern wird
                 eine verständige Lehrmethode der Grammatik (97) verordnet. Ganz verkehrt


                 20  Als ins Deutsche zu übersetzende Autoren nennt er u. a. Homer, Vergil, Ovid, Horaz,
                    Anakreon, Demosthenes, Cicero, Thukydides, Xenophon, Livius, Epiktet, Marc Aurel,
                    Cäsar, Sallust, Tacitus, Malebranche, Epikur, Dante, Petrarca, Ariost, Sannazaro, Bem-
                    bo, Malherbe, Corneille, Racine, Boileau, Bossuet, Fléchier, Pascal, Fénelon, Boursault,
                    de Vaugelas, de La Rochefoucauld, Bayle (Dictionnaire) und Locke.
                 21  LA 82. Nach einem Seitenblick auf »am wenigsten fehlerhafte« deutsche Historiker und
                    auf einen Kanzelredner, dessen Huldigungspredigt ihn 1740 in Königsberg begeistert
                    hatte, fügt er noch einen anonymen Autor hinzu, dessen »reimlose Verse« er gelesen
                    habe. Vermutlich war Ewald Christian von Kleists 1749 anonym erschienenes Gedicht
                    Der Frühling gemeint. Über die Verse schreibt Friedrich: »[…] ihr Tonfall und ihre
                    Harmonie rührten von einer Mischung von Daktylen und Spondäen her; sie waren sehr
                    sinnreich, und mein Ohr wurde angenehm von wohlklingenden Lauten berührt, die ich
                    unserer Sprache nicht zugetraut hätte.« (Immerhin!)
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