Page 32 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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30                      Katharina Mommsen

                 rung der Vögel auf Schloss Ettersburg und Goethes Lesungen der Komödie in
                 Verbindung stand. Meiner Meinung nach war das Pamphlet des alten Fritz eine
                 gezielte Revanche gegen den Weimarer Hof seines Großneffen Carl August,
                 an dem man sich unter Goethes Führung Widersetzlichkeiten gegen seinen
                 Machtwillen herauszunehmen gewagt hatte und nun sogar den preußischen
                 Adler verspottete.
                    Dass Friedrich II. keinerlei Scheu empfand, auch ihm nahestehende Men-
                 schen zu verletzen, ist bekannt. Wie seine Schwester Charlotte eine Entgeg-
                 nung auf die Beleidigungen ihres königlichen Bruders gegenüber der deutschen
                 Literatur  in Auftrag gab, so reagierte auch seine Nichte, Herzoginmutter Anna
                 Amalia, mit einer Gegenaktion. Im Grunde war für sie des Königs Schrift be-
                 sonders kränkend, da er das reiche, elegante, publikumswirksame Schrifttum
                 ihres Schützlings Wieland völlig totgeschwiegen hatte, das doch seit den 1750er
                 und 60er Jahren der deutschen Literatur einen wirklich enormen Auftrieb ge-
                 geben hatte mit Agathon und Musarion (1768), dem Neuen Amadis (1771),
                 dem Goldenen Spiegel (1772), Alceste (1773), den Abderiten (1774) und Obe-
                 ron (1780) – dazu seit 1773 mit dem Teutschen Merkur, um nur einige der
                 wichtigsten  literarischen  und  publizistischen  Hervorbringungen  zu  nennen.
                 Als  Shakespeare-Übersetzer  hatte  Wieland  sich  gleichfalls  verdient  gemacht
                 (und natürlich bei Friedrich besonders unbeliebt). Den seit 1776 in Weimar
                 ansässigen Herder nicht zu erwähnen, war geradezu grotesk, zumal die Berliner
                 Akademie der Wissenschaften Herder für literarische Leistungen schon dreimal
                 preisgekrönt hatte.
                    Anna Amalia reagierte auf ihres königlichen Onkels Pamphlet De la litté-
                 rature allemande, nachdem es zu Anfang 1781 alle Gemüter schockiert hatte,
                 durch die einfallsreiche Gründung des Journal von Tiefurt, dessen »Avertisse-
                 ment« hochgemut verkündete: »eine Gesellschaft von Gelehrten, Künstlern,
                 Poeten und Staatsleuten, beyderley Geschlechtes« trete hier zusammen, die sich
                 »vorgenommen« habe, »alles was Politick, Witz, Talente und Verstand, in un-
                 sern dermalen so merkwürdigen Zeiten, hervorbringen, in einer periodischen
                 Schrift den Augen eines sich selbst gewählten Publikums vorzulegen.« Dieses
                 Journal von Tiefurt wolle man »dem bekannten und beliebten Journal de Pa-
                 ris vollkommen ähnlich [...] machen«  – natürlich in deutscher Sprache und
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                 durchaus selbstbewusst!

                 41  Das Journal von Tiefurt. Mit einer Einleitung von Bernhard Suphan, hg. v. Eduard von
                    der Hellen (Schriften der Goethe-Gesellschaft; 7), Weimar 1892, XXXVII (»Avertisse-
                    ment«, datiert vom 15. August 1781). Die gesamte Weimarer geistige Elite einschließlich
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