Page 29 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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Potsdam und Weimar um 1780 27
Amalias dramatischen Liebhaberaufführungen und Singspielen in Ettersburg
und Tiefurt, von den legendären Leseabenden im Wittumspalais oder Fürsten-
haus. Seit 1780 besaß Weimar sogar nach dem Brand des Vorläuferbaus wie-
der ein neuerbautes Herzogliches Komödienhaus. Dass der preußische König
von diesem florierenden Musenhof seiner nahen Weimarer Verwandten nichts
gewusst haben soll, ist ganz und gar ausgeschlossen. Insofern war sein De la
littérature allemande auch eine öffentliche Ohrfeige für den Weimarer Hof.
Mit despotischer Geste alle bisherigen Errungenschaften der deutschen Li-
teratur vom Tisch zu fegen, so als existierten sie nicht, und dadurch viele Men-
schen zu verletzen, kostete den König nichts. Im Übrigen war es begreiflich,
dass das europäische Wertherfieber ihm missfiel, da der so stark auf die jungen
Gemüter einwirkende Gefühlsüberschwang in Verbindung mit gesellschafts-
kritischen Einwänden auch vom aufgeklärten Souverän als Anfechtung der
altständischen Gesellschaftsordnung und absolutistischen Staatsverfassung ver-
standen werden musste.
Doch der spezielle Verdruss, der den König veranlasste, das Armutszeug-
nis, das er der deutschen Literatur drei Jahrzehnte früher ausgestellt hatte, im
November 1780 zu erneuern, noch zu verschärfen und mit einer speziellen
Attacke gegen Goethe zu versehen, wurde durch aktuellere Ereignisse ausgelöst.
Meines Erachtens handelte es sich bei der Veröffentlichung des Manifests De
la littérature allemande um einen gezielten Racheakt des alten Fritz, der sich
gegen Goethe und dessen Einfluss auf den Weimarer Hof seines Großneffen
Carl August richtete. Dieser Einfluss war ihm in zunehmendem Maße unan-
genehm, ärgerlich und lästig geworden, wozu neuerdings noch eine unerhörte
Provokation kam, die einfach hinzunehmen er nicht bereit war. Worum es ging,
sei hier kurz resümiert.
Zunächst ist daran zu erinnern, wieviel der preußische König sich ur-
sprünglich von seinem Großneffen auf militärischen Gebiet versprochen hat-
te. 1771 hatte er von dem 14-jährigen Carl August erklärt, er »habe noch nie
einen jungen Menschen von diesem Alter gesehen, der zu so großen Hoff-
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nungen berechtigt.« Carl August seinerseits schwärmte für seinen Großon-
39 Der oft überlieferte Ausspruch vom 7. Juni 1771 auf Schloß Salzdahlum bei Braunschweig
ist hier zitiert nach: Carl Augusts Begegnungen mit Zeitgenossen. Ein Bild seiner Per-
sönlichkeit in Briefen und Berichten, Tagebuchaufzeichnungen und Selbstzeugnissen,
gesammelt und hg. v. Alfred Bergmann, Weimar 1933, 7. Vgl. auch Volker Ebersbach,
Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach. Goethes Herzog und Freund. Köln; Weimar;
Wien 1998, 53.