Page 25 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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Potsdam und Weimar um 1780              23

                   Zwischen Gedanken zur Schul- und Universitätsreform schiebt der König
               seinen Ausfall gegen Shakespeare und Goethe ein und verkündet mit richterli-
               cher Strenge:

                   Um sich zu überzeugen, wie wenig Geschmack noch bis itzt in Deutschland herrsche,
                   dürfen Sie nur unsre öffentlichen Schauspiele besuchen. Sie finden daselbst die abscheu-
                   lichen Stücke von Shakespear aufgeführt, die man in unsre Sprache übersetzt hat. Die
                   ganze Versammlung findet ein ausnehmendes Vergnügen daran, diese lächer lichen Far-
                   cen anzusehn, die nur würdig wären, vor den Wilden von Canada gespielt zu werden.
                   Ich beurtheile diese Stücke so hart, weil sie wider alle Regeln des Schauspiels sündigen.
                   Diese Regeln sind nicht will kührlich. Sie finden dieselben in der Poetik des Aristoteles,
                   wo die drey Einheiten der Zeit, des Orts und der Handlung, als die einzigen und wahren
                   Mittel vorgeschrieben sind, die Tragödien interessant zu machen. In den Stücken jenes
                   englischen Schriftstellers aber geht die Handlung ganze Jahre fort. Wo bleibt hier die
                   Wahrscheinlichkeit? Bald erscheinen in denselben Lastträger oder Todtengräber und
                   reden, wie es sich für sie schickt. Dann kommen Königinnen und Prinzen. Wie ist es
                   möglich, dass ein so wunderliches Gemisch von Großem und Niedrigem, vom Tragi-
                   schen und Harlequinspossen gefallen und rühren könne?
                   Dem Shakespear kann man indeß seine sonderbaren Ausschweifungen wohl verzeihen;
                   denn er lebte zu einer Zeit, da die Wissenschaften in England erst geboren wurden,
                   und man also noch keine Reife von denselben erwarten konnte. Aber erst vor einigen
                   Jahren ist ein ›Götz von Ber lichingen‹ auf unserm Theater erschienen, eine abscheuliche
                   Nachahmung jener schlechten englischen Stücke: und doch bewilligt unser Publikum
                   diesem eckelhaften Gewäsche seinen lauten Beyfall, und verlangt mit Eifer ihre öftere
                   Widerholung. Ich weiß, daß man über den Geschmack nicht streiten darf; indeß wer-
                   den Sie mir doch erlauben zu sagen, daß diejenigen, welche gleiches Vergnügen daran
                   finden, Seiltänzer und Marionetten oder die Tragödien des Racine zu sehn, nur ihre Zeit
                   zu verbringen suchen. Sie wollen lieber, daß man zu ihren Augen als zu ihrem Verstande
                   rede, und sie ziehen ein bloßes Schauspiel dem vor, was das Herz rührt. (Zitiert nach:
                   Shakespearerezeption: Die Diskussion um Shakespeare in Deutschland. Ausgewählte Texte
                   1741–1788, hg. v. H. Blinn, Berlin 1982, II, 151f.).

               Der König begründet demnach sein despotisches Urteil literaturtheoretisch mit
               dem sein Stilgefühl verletzenden Auftreten hoher und niedriger Personen in ein
               und demselben Stück sowie Verstößen gegen die Aristotelischen Einheiten. Er
               denkt nicht daran, Notiz zu nehmen von der längst vollzogenen Entwicklung
               einer ganzen Generation shakespearebegeisterter junger Dichter, denen nicht
               zuletzt Lessings Hamburgische Dramaturgie die Rechtfertigung für den Bruch
               mit veralteten Regeln zugunsten neuer Ausdrucksmöglichkeiten geliefert hat-
               te.
                   Das Unglaublichste an der königlichen Attacke gegen Goethe, dessen Na-
               men zu nennen er vermeidet, ist die völlige Ignorierung von Goethes damals
               bereits  erreichtem  Status  als  berühmtester  zeitgenössischer  Dichter  Europas.
               Hatte doch kein Werk der Literatur jemals bei seinem Erscheinen einen so
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