Page 182 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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180 Günther Lottes
Geschichtswissenschaft zu bestimmen, und zwar in der modernen Geschichts-
wissenschaft, nicht jedoch im Hinblick auf frühere Formen der Darstellung
von Geschichte, weil die Fragestellung unserer Tagung ja explizit auch auf eine
Standortbestimmung der Klassiker- und Kanonproblematik mit Blick auf die
Gegenwart zielt.
Die Rede ist deshalb nicht von Klassikern der Geschichtsschreibung, sondern
im Sinne von Raphael von Klassikern der Geschichtswissenschaft. Geschichts-
schreibung ist eine literarische Gattung, deren Zeugnisse für sich im Mittel-
punkt stehen. Geschichtswissenschaft bezieht sich darüber hinaus auf den der
Darstellung vorausgehenden Forschungsprozess der Aufarbeitung der histori-
schen Überlieferung. Knapper formuliert: Geschichtsschreibung hat mit Tex-
ten, Geschichtswissenschaft mit den Quellen zu tun. Es geht der Geschichts-
wissenschaft darum, die Quellen als Hinterlassenschaft der Vergangenheit zum
Sprechen zu bringen. Hierfür bedarf es angesichts der Streuung der Zeugnisse
der ordnenden Darstellung in Gestalt eines Textes, der aber nicht als Text im
Vordergrund steht. Das heißt nicht, dass es nicht immer wieder geschichts-
wissenschaftliche Darstellungen auf einem hohen literarischen Niveau gegeben
hätte. Aber diese Eigenschaft der Texte geschichtswissenschaftlicher Klassiker
ist eher akzidentiell. Gelegentlich verraten sich Geschichtswissenschaftler, was
ihr Unbehagen an der Darstellung angeht, und suchen ihr Heil in der Quellen-
edition, in der die Quellen gleichsam selbst zu Wort kommen. Dies geschieht
aber letztlich nur, um schließlich zugeben zu müssen, dass die Fragestellung
die Quellenbasis determiniert und die Darlegung der Fragestellung und der
Auswahlkriterien das Darstellungsprinzip durch die Hintertür wieder her-
beizwingt.
Die Unterscheidung zwischen Geschichtsschreibung und Geschichtswis-
senschaft hat zur Folge, dass die Klassikerfrage überhaupt erst nach der Be-
gründung der Geschichtswissenschaft als einer wissenschaftlichen Disziplin
und insofern erst nach der Konstitution der modernen Wissenschaft im Zeit-
alter der Aufklärung gestellt werden kann. Die Wissensrevolution des 17. und
18. Jahrhunderts bringt eine neue Wissensweise mit neuen Wahrheitskriterien
und neuen Verfahren der Wissenskonstitution hervor, auf die sich der heute
schon etwas modisch verbrauchte, aber wie ich meine doch unverzichtbare Ter-
minus der Wissensgesellschaft ursprünglich bezieht. Die Wissensgesellschaft,
die aus dem erwächst, was Paul Hazard die Krise des europäischen Bewusstseins
genannt hat, ist eine Gesellschaft, die sich ihr Wissen neu schafft. Die Denk-
weise dieser Gesellschaft ist im wörtlichen Sinne wissenschaftlich zu nennen.