Page 187 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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Klassiker der Geschichtsschreibung?      185

               nur Johannes Müller, Wilhelm Heinrich Riehl oder Johannes Scherer – gerie-
               ten in dem Maße in Vergessenheit, in dem sich die Staats- und Politikhistorie
               an den Universitäten durchsetzte und der nationalen Erinnerung bemächtigte.
               Bemerkenswert und für die moderne Sozial- und Kulturgeschichte in gewis-
               ser Weise peinlich ist, dass nach der Verdrängung der genealogisch gleichwohl
               klar zutage tretenden demokratischen Einbettung dieses historischen Zugriffs
               Verbindungslinien zwischen der älteren deutschen Kulturgeschichte und der
               Volksgeschichte nationalsozialistischer Provenienz erhalten geblieben sind.
                   Wie  mächtig  sich  solche  Genealogien  von  Interpretamenten  in  das  Be-
               wusstsein der Wissenschaftler und des Publikums einschreiben können, zeigt
               das Schicksal der deutschen Nationalhistoriografie nach 1945. Das Paradigma
               wurde nun schlicht umgedreht, aus den einstigen Helden wurden Schurken,
               und aus den Schurken wurden Helden. Das so strahlende Preußen verschwand
               fast von der Bildfläche, während das früher gering geschätzte Alte Reich in ei-
               nem ungewohnten Glanz erstrahlte. Die Klassiker der Geschichtswissenschaft
               wurden gegen den Strich gebürstet oder, wenn sich dies wie etwa bei Treitschke
               so einfach nicht bewerkstelligen ließ, aus der Historiker-Walhalla schlicht ent-
               fernt und in die Rumpelkammern der Internetantiquariate eingestellt. Ganz
               ähnliche Beobachtungen ließen sich im Übrigen in Bezug auf den Umgang mit
               der Geschichtswissenschaft der DDR nach der Wende machen. Der Klassiker-
               status ist mithin in den Geschichtswissenschaften eine nicht nur in dem sehr
               allgemeinen Sinne Thomas Kuhns, sondern auch in einem sehr konkreten und
               politischen Sinn stets zugleich eine Machtfrage.
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