Page 183 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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Klassiker der Geschichtsschreibung?      181

               Auch die Geschichte nimmt an diesem Umbruch der Wissensweise teil und
               gerät in den Sog der Wissensschaffung. Der Mensch will sich keiner Überliefe-
               rung mehr ausliefern und das Geschehen in der Zeit auch nicht mehr nur pro-
               tokollieren, sondern macht sich die Vergangenheit gefügig, indem er sie ganz so
               wie die Natur auseinander nimmt und in der Darstellung als seiner Erzählung
               wieder zusammensetzt.
                   Ältere historiografische Zeugnisse aus der Antike oder aus dem Mittelalter
               können als vor dieser Wissensrevolution liegende Texte keinen Klassikerstatus
               beanspruchen. Sie können wie etwa Thukydides, Plutarch oder Livius Klassiker
               nur insofern sein, als etwa der Antike eine Klassizität eigener Art zugeschrieben
               wird. Diese Klassizität der classics verweist auf die Erfahrung der Renaissance,
               welche  die  »fontes«  der  Antike  als  Referenzhorizont  eines  ersten  Versuchs
               der Neukonstitution des Wissens in Europa etabliert hatte. Für die englische
               moderne Geschichtswissenschaft sind diese Klassiker dagegen schlicht Quel-
               len, deren Anspruch auf den Klassikerstatus sich zum einen nach ihrer Ver-
               wendungsgeschichte seit der Renaissance und zum anderen nach ihrem Quel-
               lenwert bemisst. Man denke an die unterschiedlichen Ausprägungen des civic
               humanism in Westeuropa oder die Aristoteles-Tradition in Deutschland. Unter
               den historiografischen Produkten des Mittelalters gibt es bezeichnenderweise
               kaum noch solche, denen Klassikerstatus zugeschrieben würde, weil für sie das
               andere Klassikverständnis des Begriffs (englisch:) classics nicht in Anspruch ge-
               nommen werden kann.
                   Klassiker der Geschichtswissenschaft sind also Klassiker im Sinne des mo-
               dernen Verständnisses von Wissenschaft, das in der Epoche der Aufklärung ent-
               steht. Dieses steht im Zeichen des Innovationsprinzips, demzufolge der Mensch
               sich die Welt in einem Prozess der Wahrheitsaufdeckung untertan macht, und
               der zugleich quantitativ und qualitativ ist. Wissenschaft bringt immerzu Er-
               kenntnisse hervor, die uns die Welt nicht nur besser verstehen lassen, sondern
               immer auch neu präsentieren. Neues Wissen ist besseres Wissen, und besseres
               Wissen ist neues Wissen. Das gilt für die Naturwissenschaft, aber auch für die
               Wissenschaften vom Menschen einschließlich der Geschichtswissenschaft. Wie
               zwanghaft diese Vorstellung geworden ist, mag man daran ablesen, dass wir in
               unserer an Legitimationsmetaphern reichen wissenschaftlichen Alltagssprache
               ständig suggerieren, wir würden durch unsere Arbeit die Welt neu erfinden.
               Diese Fixierung auf Innovation bedeutet aber zugleich, dass auch die bedeu-
               tendsten Hervorbringungen der Geschichtswissenschaft vom progressiven Er-
               kenntnisprozess überholt werden oder, brutaler formuliert, veralten.  Historiker
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