Page 184 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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182 Günther Lottes
gehen wie Naturwissenschaftler von einem Forschungsstand aus, der zeitnah
zum aktuellen Forschungsgeschehen definiert wird. Aus diesem Grund gibt es
in der Geschichtswissenschaft auch keine Kanonbildung in einem literarischen
Sinn. Man muss Ranke nicht gelesen haben, um sich zum Mächtesystem, zur
englischen oder zu preußischen Geschichte äußern zu können. Es ist im Gegen-
teil nicht einmal ohne weiteres möglich, einen Klassiker zum Beleg einer Aus-
sage heranzuziehen. Immer ist nämlich zu prüfen, ob es seither Erkenntnisse
gegeben hat, welche die Meinung des Klassikers bestätigen oder modifizieren.
Wer heute über das europäische Mächtesystem schreibt, zitiert Ranke nicht als
einen Autor, der einen Forschungsbeitrag geleistet hat, sondern als Ahnherren
des Themas.
Die Kanonbildung bleibt in den Geschichtswissenschaften streng auf den
Forschungsstand bezogen und ist insofern oft genug themen- oder im besten
Fall (teil-)disziplinbezogen. Natürlich kommt es gelegentlich zu Regressen, ins-
besondere dann, wenn Neuansätze im Forschungsgeschehen sich zu etablie-
ren und auf diese Weise den fachlichen Legitimationsbedarf zu decken suchen.
Darin kommt aber nur zum Ausdruck, dass der neue Zugriff auf die Vergan-
genheit längere Zeit nicht praktiziert worden ist und der Forschungsstand eben
entsprechend weit zurückreicht.
Etwas anders verhält es sich, wenn in den Geschichtswissenschaften auf –
nicht selten – außerfachliche theoretische Konzepte zurückgegriffen wird. Den
entsprechenden Theoretikern, etwa Karl Marx in der marxistischen Geschichts-
wissenschaft oder Max Weber und der Modernisierungstheorie in der westdeut-
schen Sozialgeschichte wuchs in diesem Zusammenhang eine Art Klassikersta-
tus zu, der im Falle der marxistischen Geschichtswissenschaft in den sozialisti-
schen Ländern in den Literaturverzeichnissen sogar formell Berücksichtigung
fand, wenn ausdrücklich von den »Klassikern des Marxismus-Leninismus« die
Rede war. Diese Zuschreibungen nahmen gelegentlich, und zwar in besonde-
rem Maße in der neueren Geschichte, wenn es um die Wirkungsepoche der
Klassiker selbst ging, einen exegetischen Charakter an, der vielen Linken im
Westen unverständlich blieb, weil er das theoretische Potential der Klassiker
erstaunlich ungenutzt ließ. Daneben stieß man auf geradezu dichotomische
Darstellungsstrukturen, welche die Bezugnahme auf die Klassiker von einer
ganz positivistisch verstandenen historischen Arbeitsebene trennten. In der
westdeutschen Sozialgeschichte lassen sich ähnliche Entwicklungen im Falle
einer gelegentlich ziemlich naiven Weber-Hörigkeit oder bei der Beschäftigung
mit dem Faschismus im Zeichen der Faschismustheorien beobachten.