Page 186 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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184 Günther Lottes
NS-Zeit. Die Bielefelder Schule suchte dagegen ihre Wurzeln in abgebroche-
nen Historikerkarrieren wie der Eckart Kehrs oder bei für die amerikanische
Universitätshistorie wichtigen deutsch-jüdischen Emigranten wie Hans Rosen-
berg. Raphaels Aufnahme von Nicht-Historikern, Soziologen, Anthropologen,
Ökonomen, in die hall of fame der modernen Geschichtswissenschaft spiegelt
dann den disziplinären Desintegrationsprozess der Geschichtswissenschaft seit
dem Zweiten Weltkrieg, während sich in der Internationalität seiner Auswahl
der in Deutschland besonders ausgeprägte Prozess der Internationalisierung der
Geschichtswissenschaft manifestiert.
Der Begriff der Genealogie verweist noch auf eine andere Dimension des
Klassikerverständnisses in den Geschichtswissenschaften. Wie die literarischen
Klassiker spielt auch die Geschichtswissenschaft in den Identitätsbildungspro-
zessen seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts eine Schlüsselrolle. Ihre großen
Werke stellen gleichwohl keine normativen Texte dar, derer sich das disziplinäre
Schaffen immer wieder neu versichern müsste, wie dies etwa in der Philosophie
der Fall ist, oder an denen man sich wie im Falle der Literatur in Imitation, Mo-
difikation und Distanzierung abarbeiten könnte. Die identitätsstiftende Funk-
tion der historischen Texte folgt einem anderen Muster. Denn die Genealogien
der Geschichtswissenschaft stehen für die Weitergabe von Interpretationsmu-
stern, die durch die Arbeit der Forschergenerationen bestätigt, vertieft und dem
zeitlichen Wandel angepasst werden. Im intellektuellen Spitzenahn, um eine
Formulierung der Kulturanthropologie zu verwenden, werden die historiografi-
schen Traditionen gleichsam verankert. Auf diese Weise lässt sich der Bezug auf
einen Gründungshorizont, also zum Beispiel auf denjenigen der Konstitution
der Nation an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, mit der Fiktion einer
progressiven Erweiterung und Verbesserung des Wissensstandes verschmelzen.
Das Werk des Spitzenahns kann veralten, ohne seine Legitimationsfunktion zu
verlieren.
Wie dominant und nachhaltig solche Genealogien sein können, lässt sich
an der deutschen Geschichtswissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts zeigen.
Im 19. Jahrhundert existierten zwei Genealogien von Werken und Interpreta-
menten nebeneinander, die eine staatstragend und politikgeschichtlich orien-
tiert, darauf bedacht, den neuen Souverän der Nation in das Gehäuse des von
den alten Eliten beherrschten Staates zu sperren, die andere – von liberalen und
demokratischen Historikern getragen und in dem Versuch, den neuen Souve-
rän der Nation zu beschreiben – sozial- und kulturgeschichtlich orientiert. Die
Klassiker der letztgenannten Denk- und Darstellungstradition – ich nenne hier