Page 180 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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178                        Günther Lottes

                 der zweite Band moderne Klassiker, darunter auch Kulturtheoretiker wie Pierre
                 Bourdieu, Marshall Sahlins oder Michel Foucault versammelte. Ich selbst habe
                 zu diesem Sammelwerk einen Beitrag über den englischen Sozialhistoriker und
                 anglo-marxistischen Theoretiker Edward P. Thompson beigetragen. Ich muss
                 gestehen, dass ich mir, als ich den Verlagsvertrag unterschrieb, keine großen
                 Gedanken darüber gemacht hatte, welches Klassikerkonzept den Bänden zu-
                 grunde lag und warum gerade Thompson darunter firmieren sollte. Die Ge-
                 samtauswahl kannte ich nicht oder habe ich, wenn sie im Vertrag stand, einfach
                 überlesen. Ich kann mich allerdings erinnern, dass mir Thompsons Erhebung
                 in den Klassikerstand ein leichtes Achselzucken abnötigte, weil ich Thompson
                 eher auf dem Weg in die Vergessenheit vermutet hätte. Dies hatte mir allerdings,
                 als ich es schon einmal aus Anlass der deutschen Übersetzung von Thompsons
                 Hauptwerk The Making of the English Working Class ins Deutsche festgestellt
                 hatte, die heftige Kritik einiger meiner linken Freunde eingebracht.
                    Die Diskussion in der englischen und internationalen Geschichtswissen-
                 schaft scheint mir freilich meine ursprüngliche Einschätzung zu bestätigen. Das
                 Kriterium der sozialen ›Klasse‹ ist als historischer Untersuchungsgegenstand of-
                 fensichtlich tot und die von Thompson inaugurierte neue Sicht der history from
                 below ist mittlerweile einer  history from everywhere gewichen. Thompson ist ein
                 Name, mit dem sich die Erinnerung an einen folgenreichen Aufbruch verbin-
                 det. Was er geschrieben hat, ist jedoch nur noch wenigen bekannt und muss
                 auch denjenigen nicht unbedingt bekannt sein, die in dieser Tradition weiter
                 gearbeitet haben. Trotzdem fand ich nichts dabei, Thompson als Klassiker der
                 Geschichtswissenschaft  zu  bearbeiten,  weil  es  in  unserer  Zunft  gerade  diese
                 Art von Halberinnerung ist, die den Klassiker ausmacht. Wie viele von denen,
                 die Gibbon oder Ranke im Munde führen, haben Gibbon oder Ranke gele-
                 sen? Haben ihre Forschungen und Deutungen tatsächlich noch irgendwelchen
                 Einfluss auf die heutige Geschichtswissenschaft? Selbst dort, wo ihre Deutun-
                 gen weitergegeben werden, sind sich viele Historiker der forschungsgeschicht-
                 lichen Genealogie ihrer Thesen gar nicht mehr bewusst und huldigen lieber
                 der Innovativitätsforderung der Naturwissenschaften, indem sie sich auf den
                 jüngsten Forschungsstand beziehen. Die Klassiker der Geschichtswissenschaft
                 unterscheiden sich, so scheint es, von philosophischen oder gar literarischen
                 Klassikern, die von praktizierenden Philosophen und Literaturwissenschaftlern
                 nicht so einfach umgangen werden können, und ähneln eher den Klassikern
                 der Naturwissenschaften. Wie viele Astronomen oder  Physiker werden wohl
                 Newtons Principia mathematica gelesen haben?
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