Page 179 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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Klassiker der Geschichtsschreibung? 177
Günther Lottes
Klassiker der Geschichtsschreibung?
Es wäre nicht schwer, eine Liste von Klassikern der Geschichtswissenschaft zu
erstellen, die vermutlich mit Thukydides und Herodot in der Antike zu begin-
nen hätte und irgendwo im 19. Jahrhundert, vielleicht bei Jacob Burckhardt,
enden würde. Auf die Frage, in welchem Verhältnis die heutige Geschichts-
schreibung, wenn sich denn die heutige Art und Weise, Geschichte dazustellen,
unter diesem Rubrum fassen lässt, zu diesen Klassikern steht, ließe sich nur
antworten, dass die Klassiker der Geschichtsschreibung keine wie immer ge-
artete normative Bedeutung für die Darstellung und Erforschung historischer
Zusammenhänge in der Gegenwart haben, sondern im Gegenteil selbst Gegen-
stand der historischen Forschung geworden sind. Der Klassikerstatus spielt für
ihre Auswahl als Quelle nur eine Nebenrolle und verdankt sich eher der Ge-
wohnheit, die großen Texte vor den kleinen heranzuziehen. Im Prinzip besteht
jedoch zwischen Thukydides und Jordanes oder zwischen Plutarch und Sueton
als Quellen kein Unterschied, der es rechtfertigen würde, eine Rangordnung zu
erstellen. In der Tat spricht vieles dafür, dass sich die moderne Geschichtswis-
senschaft von älteren Formen der Darstellung von Geschichte gelöst hat. Liegt
also ein Fall von Klassikerverlust oder Klassikerverdrängung vor? Oder ist das
Paradigma der ›Klassizität‹ in der Geschichte überhaupt fehl am Platz? Viel-
leicht ist das so. Dies würde jedoch nicht ausschließen, die Frage zu überprüfen
und die Reichweite des Klassikparadigmas im Falle der Auseinandersetzung mit
Geschichte auszuloten.
Vor ein paar Monaten erschienen in der Klassiker-Reihe des Verlages
C. H. Beck zwei von Lutz Raphael herausgegebene Bände unter dem Titel Klas-
siker der Geschichtswissenschaft, deren erster Band, wenngleich mit problemati-
schen Einschlüssen und Auslassungen, den üblichen Verdächtigen gewidmet
war. Es handelte sich dabei also um Gibbon, Ranke und Konsorten, während
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1 Lutz Raphael (Hg.), Klassiker der Geschichtswissenschaft. Bd. 1: Von Edward Gibbon bis
Marc Bloch; Bd. 2: Von Fernand Braudel bis Natalie Z. Davis, München 2006. – Vgl.
ferner: Jürgen Danyel, Jan-Holger Kirsch, Martin Sabrow (Hg.), 50 Klassiker der Zeitge-
schichte. Göttingen, 2007 sowie dazu: Volker Ullrich: Vorsicht Klassiker! Warum man mit
dem Begriff behutsam umgehen sollte, in: Die Zeit Nr. 20 vom 10.5.2007, 55.