Page 181 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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Klassiker der Geschichtsschreibung?      179

                   Raphael erläutert in der Einleitung seiner Bände die Kriterien, die seiner
               Auswahl zugrunde liegen, nämlich 1. Präsenz in der gegenwärtigen Fachdis-
               kussion; 2. die Impulsgebung im Hinblick auf die Geschichtswissenschaft; 3.
               Größe und Bedeutung des jeweiligen Werkes als epochales oder überzeitliches
               Œuvre sowie 4. die ›Zeiterfahrung‹, womit die Einbindung in die eigene Zeit
               gemeint ist. Ich will diese Kriterien hier nicht weiter diskutieren, sondern nur
               meine bereits angedeuteten und noch zu begründenden Zweifel an dem Krite-
               rium der Präsenz hervorheben. Raphael räumt immerhin ein, dass von diesen
               Kriterien kein gerader Weg zu den »Klassikern« führte, die schließlich in die
               Bände Aufnahme gefunden haben. Er gibt ferner an, die Endauswahl durch
               Befragungen ermittelt zu haben, bei denen zeitweilig 50 Namen im Spiel ge-
               wesen seien, sich aber die 26, die am Ende das Rennen machten, frühzeitig als
               diejenigen herauskristallisiert hätten, deren Klassikerstatus auf breiten Konsens
               stieß. Mag sein, dass diese Befragung nicht so ernst zu nehmen ist. Ich kann mir
               nicht vorstellen, dass viele der Historiker, die ich im Laufe  meiner 35 Dienst-
               jahre als Assistent und Professor kennen gelernt habe, Raphaels Liste bestätigen
               würden. In der Tat meint auch Raphael, dass die Frage, wen man als Klassiker
               der Geschichtswissenschaft gelten lassen wolle, »auf einer spezifischen Sichtwei-
               se des eigenen Faches, aber auch der Geschichte der Geschichtswissenschaft im
               20. Jahrhundert beruht«. Solche Perspektivierungen lassen den Klassikerbegriff
               dann allerdings in letzter Konsequenz beliebig werden und widersprechen inso-
               fern der Idee der Klassizität und des Kanons, die ja gerade einen breiten Konsen-
               sus bzw. eine breite Verbindlichkeit voraussetzen. Gleichwohl darf die Wechsel-
               beziehung zwischen Klassikerstatus bzw. Kanonverbindlichkeit einerseits und
               Bezugsgruppe andererseits nicht ganz aus dem Auge verloren werden. Es gibt
               Milieuklassiker und Alternativkanons, die etwa in den unterschiedlichen lite-
               rarischen Kulturen und vor allem in den literarischen Erinnerungskulturen der
               Bundesrepublik und der DDR nach 1945 bewusst gepflegt wurden. Raphaels
               Bemerkungen zu den Klassikern der Geschichtswissenschaft haben, soweit ich
               sehe, bislang dort noch zu keiner Klassikerdebatte Anlass gegeben. Aber viel-
               leicht wäre eine solche Debatte innerhalb der weiter gespannten Diskussion der
               Erinnerungskultur für die Standortbestimmung des Faches hilfreich.
                   Mit Blick auf das Rahmenthema der Kanonbildung und der Herstellung
               von Klassizität möchte ich im Folgenden einige Überlegungen anstellen, die
               allerdings nicht in die Richtung zielen, eine Auswahl klassischer Autoren vorzu-
               stellen. Es geht mir vielmehr darum, den wissensgeschichtlichen und wissens-
               theoretischen Standort von als ›klassisch‹ geltenden Texten und Autoren in der
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