Page 185 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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Klassiker der Geschichtsschreibung?      183

                   Zu den Gegenständen, bei denen die Kluft zwischen Theoriebezug und ei-
               gentlicher historischer Arbeit am überzeugendsten überwunden wurde, gehörte
               die Französische Revolution als Referenzereignis der französischen Geschichts-
               wissenschaft  im  allgemeinen  und  der  französischen  Linken  im  besonderen.
               François Furets berühmte Darstellung der  Französischen Revolution verdankt
               ihren nachgerade klassischen Rang in der Historiografie vielleicht weniger ih-
               rer eigenen Sichtweise der Geschehnisse zwischen 1788 und 1799 als vielmehr
               ihrem Bruch mit dem bis dahin vorherrschenden exegetischen Interpretations-
               modus.
                   Wenn  die  Klassiker  der  Geschichtswissenschaft  in  der  Praxis  der  Ge-
               schichtswissenschaft nun aber keinen Platz haben, welche Funktion haben sie
               dann? Meine Antwort lautet: eine genealogische. Anders als Goethe, Schiller
               oder Kant sind Ranke, Droysen oder Burckhardt genealogische Klassiker, in
               denen die Geschichtswissenschaft, ganz so wie die Natur- oder Wirtschaftswis-
               senschaften es tun, ihren Professionalisierungsprozess erinnert und sich damit
               gleichsam in Ergänzung zu den Regeln der wissenschaftlichen Verfahrensweise
               eine Zusatzautorität verschafft. Dem Bezug auf den Spitzenahn kommt in die-
               sem Zusammenhang natürlich eine Schlüsselbedeutung zu, weshalb die älteren
               Klassiker der Geschichtswissenschaft, über deren Klassikerstatus in der Histori-
               kergemeinde weitgehend Konsens besteht, ähnlich den literarischen Klassikern
               einen Zeithorizont bilden, während der weiteren Entwicklung der Geschichts-
               wissenschaft weniger Aufmerksamkeit geschenkt werden muss. Dass die großen
               Historiker der Aufklärungsepoche wie Voltaire mit seinem Essai sur les mœurs
               oder Hume mit seiner History of England trotz der Schlüsselstellung, welche
               diese im Entstehungsprozess der modernen Wissensgesellschaft einnehmen, in
               diesem Zusammenhang häufig nicht spontan, sondern gleichsam auf Nachfra-
               ge ins Bewusstsein treten, mag daran liegen, dass der Professionalisierungspro-
               zess der Geschichtswissenschaft durch die Bildungsreformen des beginnenden
               19. Jahrhunderts eine akademische Wendung bekommt, die eine Distanz zu
               der wissenstheoretisch-methodischen, jedoch noch nicht soziologischen Profes-
               sionalisierung vor 1800 schafft.  Spätere Klassiker stehen dann meistens mit der
               Etablierung neuer Zweige oder Zugriffsweisen in der Geschichtswissenschaft in
               Verbindung – ganz so, wie Lutz Raphael dies in seinen eigenen Auswahlkrite-
               rien berücksichtigt. Die Konstruktion solcher Genealogien verrät mithin etwas
               über die intellektuell-generationellen Entwicklungen in der Wissenschaft. Da-
               bei kommen gelegentlich peinliche Verbindungslinien zum Vorschein wie die
               Beziehungen der deutschen Nachkriegssozialgeschichte zur Volksgeschichte der
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