Page 176 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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                 ansah.  Und weiter heißt es dort: das »Große« an der Phänomenologie bestehe
                 darin, dass Hegel »das Wesen der Arbeit faßt«, seine Grenze darin, dass er »auf
                 dem Standpunkt der modernen Nationalökonomen« bleibe und »nur die po-
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                 sitive Seite der Arbeit, nicht ihre negative« sehe.  Auch die Marxsche Kritik
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                 der Hegelschen Rechtsphilosophie von 1843 wurde erst 1929 ediert,  übrigens in
                 einem engen zeitlichen Zusammenhang mit Lenins »Philosophischen Heften«.
                 All diese Editionen haben, über den Anstoß aus der Sowjetunion hinaus, Anlass
                 gegeben, das Verhältnis von Marx und Hegel neu zu durchdenken, wie etwa bei
                 Herbert Marcuse und Georg Lukács. 42
                    Dass der Hegelmarxismus quasi zum Synonym für den westlichen Marxis-
                 mus wurde, lag indessen an der Entwicklung in der Sowjetunion. Ende 1930
                 wurde das Urteil über die hegelianisierende Marx-Interpretation der Gruppe
                 um Adam Deborin verkündet, die sich angeblich einer »formalistische[n] Ent-
                                                                     43
                 stellung der materialistischen Dialektik« schuldig gemacht hatte.  Speziell De-
                 borin wurde vorgeworfen, Marx und Lenin durch »Hegels Brille« gelesen zu
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                 haben.  Stalin war von Anfang an unglücklich über die Veröffentlichung der
                 »Philosophischen Hefte« Lenins, weil darin Verwirrung über die Grenzziehung
                 zwischen Materialismus und Idealismus angerichtet werde. Aus diesem Grun-
                 de wehrte er sich bis zu seinem Tod, diese Texte in die als kanonisch geltende
                 Lenin-Gesamtausgabe aufzunehmen.  Mit dem (angeblich von Stalin verfas-
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                 sten) Text »Über dialektischen und historischen Materialismus«, der 1938 im
                 »Kurzen Lehrgang der Geschichte der KPdSU (B)«, abgesegnet durch Beschluss
                 des Zentralkomitees, erschien, war Hegel wiederum zum entbehrlichen Or-
                 nament der Marxschen Theorie geworden. Folgerichtig machte dann Stalins
                 Chefideologe Shdanow im Jahre 1944 die Legende von Hegel als Philosophen


                 39  Karl Marx und Friedrich Engels, Werke. Ergänzungsband 1, Berlin 1968, 571.
                 40  Ebd., 574.
                 41  Karl Marx und Friedrich Engels, Historisch-kritische Gesamtausgabe, Abt. 1, Bd. 1, Berlin
                    1929.
                 42  Herbert  Marcuse,  Neue  Quellen  zur  Grundlegung  des  Historischen  Materialismus,  in:
                    (ders.):  Ideen  zu  einer  kritischen  Theorie  der  Gesellschaft,  Frankfurt  am  Main  1969,
                    7-54; Georg Lukács, Der junge Hegel. Über die Beziehung von Dialektik und Ökonomie,
                    2 Bde., Frankfurt am Main 1973.
                 43  Vgl. Abram Deborin, Nikolai Bucharin, Kontroversen über dialektischen und mechanisti-
                    schen Materialismus, Frankfurt am Main 1969, 318.
                 44  Leo Sziklai, Georg Lukács und seine Zeit, Berlin; Weimar 1990, 80.
                 45  Vgl. Dieter Uhlig, Wladisław Hedeler, Nachwort, in: Nikolai Bucharin: Philosophische
                    Arabesken, Berlin 2005, 425.
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