Page 175 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
P. 175

Kanonbildung bei und mit Hegel          173

                  Im Gefolge der russischen Revolution, die – ähnlich wie im 18. Jahrhundert
               die Französische – bei vielen Intellektuellen eine an Enthusiasmus grenzende
               Teilnahme erregte,  verbreitete sich dann auch in Westeuropa das Schlagwort
                               33
               der »revolutionären Dialektik«, verbunden mit einem neuen Interesse an Hegel.
               Georg Lukács’ Buch Geschichte und Klassenbewußtsein (1923), das als Grün-
               dungsdokument des westlichen Hegelmarxismus gilt, steht sein Lenin-Essay
               von 1924 zur Seite, in dem er Lenin als Begründer einer neuen Epoche der
                            34
               Dialektik feiert.  Lenin selbst hatte noch 1922 gefordert, ein »systematisches
               Studium der Dialektik Hegels vom materialistischen Standpunkt aus«  zu or-
                                                                        35
               ganisieren. Hierzu stellte er sich »eine Art ›Gesellschaft materialistischer Freun-
               de der Hegelschen Dialektik‹« vor. 36
                   Der  Hegelmarxismus  erhielt  weiteren  Auftrieb  durch  eine  editionsge-
               schichtliche Konstellation der 1920er und 30er Jahre, in der die von Dilthey
               inaugurierte und von Hermann Nohl (Hegels theologische Jugendschriften, 1907)
               ins Werk gesetzte historisierend-entwicklungsgeschichtlich orientierte Hegel-
               Edition einerseits und die um die Kanonisierung Marxens als Klassiker bemüh-
               te Marx-Edition andererseits zusammentrafen. Nachdem Georg Lasson bereits
               1923 das unter dem Titel System der Sittlichkeit bekannte Reinschriftfragment
               Hegels veröffentlicht hatte, gab Johannes Hoffmeister 1931 die Jenenser Real-
               philosophien I und II heraus.  In den Jenenser Manuskripten wird eingehender
                                      37
               und ausführlicher als in den späteren Schriften Hegels die Sphäre der Öko-
               nomie und besonders die Struktur der Arbeit behandelt. Diese Entdeckung
               fiel zusammen mit einer anderen, nämlich der des »philosophischen« jungen
               Marx in den Pariser Manuskripten von 1844, die 1932 im Rahmen der alten
               Marx-Engels-Gesamtausgabe publiziert wurden.  Hier konnte man lesen, dass
                                                      38
               Marx dem bis 1932 gerade erst editorisch erschlossenen Jenenser Hegel beson-
               dere Aufmerksamkeit geschenkt hatte, weil er die Phänomenologie des Geistes
               als »wahr[e] Geburtsstätte« und das »Geheimnis der Hegelschen Philosophie«




               33  Jean-François Lyotard, Der Enthusiasmus. Kants Kritik der Geschichte, Wien 1988.
               34  Georg Lukács, Werke. Frühschriften 2, Neuwied; Berlin 1968, 161-517, 521-588.
               35  Wladimir Iljitsch Lenin: Werke, Bd. 33, Berlin 1971, 219.
               36  Ebd., 220.
               37  Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Schriften zur Politik und Rechtsphilosophie, hg. v. Georg
                   Lasson, Leipzig 1923; Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Jenenser Realphilosophie, Bd. 1.2,
                   hg. v. Johannes  Hoffmeister, Leipzig 1932.
               38  Karl Marx und Friedrich Engels, Historisch-kritische Gesamtausgabe, Abt. 1, Bd. 3, Berlin
                   1932.
   170   171   172   173   174   175   176   177   178   179   180