Page 174 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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                 der Zweiten Internationale folgend, Marx’ Bezugnahmen auf Hegel als bloßes
                 Ornament, als Überbleibsel seiner Entwicklungsgeschichte angesehen. So hatte
                 er 1894 verkündet, dass es »unsinnig« sei, »dem Marxismus Hegelsche Dia-
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                 lektik vorzuwerfen«.  In den Exzerpten und kommentierenden Anmerkungen
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                 zum Briefwechsel von Marx und Engels entstand dann ein ganz anderes Bild.
                 Etwa ein Viertel dieser Anmerkungen bezieht sich auf Fragen der Philosophie
                 und der Dialektik, wobei die Hegelsche Logik und Marx’ Auseinandersetzung
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                 mit ihr im Kapital im Mittelpunkt stehen.  Indem Lenin den Inhalt der Briefe
                 gegen ihre revisionistische Interpretation durch Bernstein wendet, entdeckt er
                 in ihnen zugleich die Bedeutung Hegels für die Marxsche Theorie.
                    Dieser Spur ging Lenin weiter nach, als er am Beginn des Ersten Weltkrie-
                 ges im Schweizer Exil den Untergang der europäischen Arbeiterbewegungen in
                 einer Flut des nationalstaatlichen Chauvinismus erleben musste. Er zog sich in
                 die Berner Bibliothek zurück, um dort philosophische Literatur zu studieren.
                 Vom September 1914 bis zum Mai 1915 las er u. a. Hegels Wissenschaft der
                 Logik und andere Werke von und zu Hegel (übrigens, selbstverständlich, in der
                 Freundesvereinsausgabe). Die umfängliche und intensive Lektüre schlug sich in
                 ebenso umfänglichen Exzerpten und kommentierenden Anmerkungen nieder,
                 die im Druck immerhin knapp 300 Seiten füllen, wozu auch ein eigenständiger
                 Entwurf unter dem Titel Zur Frage der Dialektik gehört.  Im Ergebnis seiner
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                 Lektüre zog Lenin die berühmte und vielzitierte Folgerung: »Man kann das
                 Kapital von Marx und besonders das I. Kapitel nicht vollständig bergreifen,
                 ohne die ganze Logik von Hegel durchstudiert und begriffen zu haben. Folglich
                 hat nach einem halben Jahrhundert nicht ein Marxist Marx begriffen!«  Damit
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                 soll sicher nicht gesagt sein, dass sich die Kritik der politischen Ökonomie ohne
                 Studium der Hegelschen Logik überhaupt nicht begreifen lasse; wohl aber ist
                 gemeint, dass ein vollständiges Begreifen der Marxschen Theorie einschließlich
                 ihrer  wissenschaftstheoretischen  Grundlagen  ohne  Hegel  nicht  möglich  sei.
                 Lenins Aphorismus ist das Gründungsdokument des Hegelmarxismus, wie er
                 dann vor allem im westlichen Marxismus zur Geltung kam.




                 28  Wladimir Iljitsch Lenin, Werke, Bd. 1, Berlin 1972, 167.
                 29  Wladimir Iljitsch Lenin, Konspekt zum ›Briefwechsel zwischen Karl Marx und Friedrich
                    Engels 1844–1883‹, Berlin 1963.
                 30  Vgl. Arndt: Lenin (wie Anm. 25), 258ff.
                 31  Vgl. Wladimir Iljitsch Lenin, Werke, Bd. 38, Berlin 1971.
                 32  Ebd., 170.
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