Page 174 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
P. 174
172 Andreas Arndt
der Zweiten Internationale folgend, Marx’ Bezugnahmen auf Hegel als bloßes
Ornament, als Überbleibsel seiner Entwicklungsgeschichte angesehen. So hatte
er 1894 verkündet, dass es »unsinnig« sei, »dem Marxismus Hegelsche Dia-
28
lektik vorzuwerfen«. In den Exzerpten und kommentierenden Anmerkungen
29
zum Briefwechsel von Marx und Engels entstand dann ein ganz anderes Bild.
Etwa ein Viertel dieser Anmerkungen bezieht sich auf Fragen der Philosophie
und der Dialektik, wobei die Hegelsche Logik und Marx’ Auseinandersetzung
30
mit ihr im Kapital im Mittelpunkt stehen. Indem Lenin den Inhalt der Briefe
gegen ihre revisionistische Interpretation durch Bernstein wendet, entdeckt er
in ihnen zugleich die Bedeutung Hegels für die Marxsche Theorie.
Dieser Spur ging Lenin weiter nach, als er am Beginn des Ersten Weltkrie-
ges im Schweizer Exil den Untergang der europäischen Arbeiterbewegungen in
einer Flut des nationalstaatlichen Chauvinismus erleben musste. Er zog sich in
die Berner Bibliothek zurück, um dort philosophische Literatur zu studieren.
Vom September 1914 bis zum Mai 1915 las er u. a. Hegels Wissenschaft der
Logik und andere Werke von und zu Hegel (übrigens, selbstverständlich, in der
Freundesvereinsausgabe). Die umfängliche und intensive Lektüre schlug sich in
ebenso umfänglichen Exzerpten und kommentierenden Anmerkungen nieder,
die im Druck immerhin knapp 300 Seiten füllen, wozu auch ein eigenständiger
Entwurf unter dem Titel Zur Frage der Dialektik gehört. Im Ergebnis seiner
31
Lektüre zog Lenin die berühmte und vielzitierte Folgerung: »Man kann das
Kapital von Marx und besonders das I. Kapitel nicht vollständig bergreifen,
ohne die ganze Logik von Hegel durchstudiert und begriffen zu haben. Folglich
hat nach einem halben Jahrhundert nicht ein Marxist Marx begriffen!« Damit
32
soll sicher nicht gesagt sein, dass sich die Kritik der politischen Ökonomie ohne
Studium der Hegelschen Logik überhaupt nicht begreifen lasse; wohl aber ist
gemeint, dass ein vollständiges Begreifen der Marxschen Theorie einschließlich
ihrer wissenschaftstheoretischen Grundlagen ohne Hegel nicht möglich sei.
Lenins Aphorismus ist das Gründungsdokument des Hegelmarxismus, wie er
dann vor allem im westlichen Marxismus zur Geltung kam.
28 Wladimir Iljitsch Lenin, Werke, Bd. 1, Berlin 1972, 167.
29 Wladimir Iljitsch Lenin, Konspekt zum ›Briefwechsel zwischen Karl Marx und Friedrich
Engels 1844–1883‹, Berlin 1963.
30 Vgl. Arndt: Lenin (wie Anm. 25), 258ff.
31 Vgl. Wladimir Iljitsch Lenin, Werke, Bd. 38, Berlin 1971.
32 Ebd., 170.