Page 171 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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Kanonbildung bei und mit Hegel 169
Erstfassungen Hegelscher Werke – wie die Erstauflage der Seinslogik (1812)
und der Enzyklopädie (1817) – fielen diesem Prinzip zum Opfer. Besondere
Sorgfalt legten Witwe und Herausgeber auch auf die »Vermischten Schriften«,
in denen eine sorgfältige Auswahl aus den Jenaer Druckschriften getroffen wur-
de, um Irritationen hinsichtlich der in dieser Zeit erfolgenden Wandlungen der
Systemkonzeption zu vermeiden. Außerhalb der Ausgabe durfte Karl Rosen-
kranz in seiner 1844 erschienenen Biografie Hegels Leben die frühe Entwicklung
des werdenden Philosophen mit Specimina aus dem Nachlass dokumentieren.
Auch hierin folgten übrigens die Erben Schleiermachers denen Hegels: wie Ro-
senkranz’ Biografie, so enthielt auch Wilhelm Diltheys Leben Schleiermachers ei-
nen Anhang mit Manuskripten der Jugendzeit. Die geistigen Antipoden Hegel
und Schleiermacher wurden nach gleichen Regeln kanonisiert.
Eine bemerkenswerte Ausnahme von der Orientierung auf die angeblich
letztgültige Gestalt der Disziplinen und dem Verzicht auf die Entwicklungs-
geschichte stellt der von Rosenkranz besorgte Band mit den Nürnberger Pro-
pädeutiken dar, also die Edition der Manuskripte und Diktathefte, die Hegels
Philosophie-Unterricht am Nürnberger Gymnasium dokumentieren. Die Pu-
blikation erfolgte nicht zuletzt auf das Drängen der Witwe hin, die damit wohl
– ebenso wie Rosenkranz – die Kontinuität christlichen Denkens bei Hegel
belegen wollte, hatte doch Hegel seinem Eleven vielfach durch Verweise auf die
christliche Vorstellungswelt auf die philosophischen Sprünge helfen wollen.
Damit ist ein Punkt bezeichnet, an dem die Edition auch in den Streit um
die Hegelsche Philosophie involviert war, der sich zuerst und zum Teil schon zu
Lebzeiten als Streit um die Religion, genauer gesagt: als Streit um die Christ-
lichkeit der Hegelschen Philosophie überhaupt und seiner Religionsphiloso-
phie insbesondere entzündet hatte. Marheinekes Edition der Religionsphiloso-
phie sollte hier angebliche Missverständnisse vermeiden und die Christlichkeit
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Hegels beweisen helfen. Die Fronten änderten sich jedoch nach Hegels Tod;
mit David Friedrich Strauß’ Leben Jesu (1835) wurde das vermeintliche histori-
sche Fundament des Christentums destruiert und zugleich für obsolet erklärt.
Nicht Christusglaube, sondern Vernunft, nicht Religion, sondern Philosophie
erschien nun vielen als das Höchste. Die Hegelsche Schule zerbrach in Fraktio-
nen. Eine neue, wesentlich veränderte Auflage der Religionsphilosophie, diesmal
20 Vgl. Walter Jaeschke, Die Vernunft in der Religion. Studien zur Grundlegung der Religions-
philosophie Hegels, Stuttgart-Bad Cannstatt 1986, Teil 4; Jaeschke, Hegel-Handbuch (wie
Anm. 13), 505-525.