Page 172 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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                 besorgt von Bruno Bauer, die 1840 erschien, sollte Hegel vor der Vereinnah-
                 mung vor allem durch die radikale Partei bewahren, konnte den Streit jedoch
                 nicht  mehr  schlichten.  Auch  wenn  die  ideenpolitische  Absicht  der  Kanoni-
                 sierung Hegels sich hier wie auch später im Blick auf die Rechtsphilosophie
                 nicht erfüllte, so blieb die Freundesvereinsausgabe doch bis ins 20. Jahrhundert
                 hinein Bezugspunkt des Streits um Hegel. Die Kanonbildung mit Hegel war
                 insofern ein erfolgreiches Unternehmen.
                    Hingewiesen sei noch darauf, dass dem Interesse dieser Kanonisierung auch
                 ein großer Teil des Hegelschen Nachlasses zum Opfer fiel. Um für die Zukunft
                 jeden »Missbrauch« zu vermeiden, haben Hegels Söhne noch in den 1870er
                 Jahren in großem Umfang Manuskripte Hegels einer Papiermühle überantwor-
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                 tet – es muss sich also um größere Mengen gehandelt haben.  An dem kanoni-
                 sierten Bild sollte nicht gerüttelt werden.


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                 Ging es dem »Verein der Freunde des Verewigten« darum, Hegels Philosophie
                 sowohl als geschlossenes System als auch als Abschluss der Philosophie zu prä-
                 sentieren, so wurde nur das erste Ziel für einige Zeit erreicht. Mit der Spal-
                 tung der Hegelschen Schule setzte ein Erosionsprozess ein, der durch die libe-
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                 rale Hegel-Kritik (Rudolf Haym),  die logische Hegel-Kritik (Friedrich Adolf
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                 Trendelenburg),  die Metaphysik-Kritik (Ludwig Feuerbach)  und nicht zu-
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                 letzt durch die sozialistische und kommunistische Kritik beschleunigt wurde
                 und Hegel im Bewusstsein vieler schließlich zum ›toten Hund‹ werden ließ. Po-
                 sitivismus, Materialismus und Neukantianismus dominierten die philosophi-
                 schen Debatten, während die Einzelwissenschaften – nicht nur die naturwissen-
                 schaftlichen – sich weitgehend unabhängig von der Philosophie entwickelten.
                 Auch wenn bezweifelt werden kann, dass diese Prozesse eine theoretische oder



                 21  Dieter Henrich, Auf der Suche nach dem verlorenen Hegel, in: Zeitschrift für philosophische
                    Forschung 35 (1981), 585-591; Willi Ferdinand Becker, Hegels hinterlassene Schriften im
                    Briefwechsel seines Sohnes Immanuel, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 35 (1981),
                    592-614.
                 22  Rudolf Haym, Hegel und seine Zeit. Vorlesungen über Entstehung und Entwickelung, We-
                    sen und Werth der Hegel’schen Philosophie, Berlin 1857 (Reprint: Hildesheim 1962).
                 23  Friedrich Adolf  Trendelenburg, Logische Untersuchungen, 2 Bde., Berlin 1840.
                 24  Vgl. Jaeschke, Hegel-Handbuch (wie Anm. 13), 530-537.
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