Page 173 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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Kanonbildung bei und mit Hegel          171

               faktische Widerlegung Hegels geleistet hätten, kam es im Ergebnis zu einer Hi-
               storisierung der Hegelschen Philosophie. Dies gilt auch für die sogenannte wis-
               senschaftliche Weltanschauung der Arbeiterbewegung, denn Marx’ kritischer
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               Umgang mit Hegel hatte bei deren Theoretikern kaum Spuren hinterlassen.
               Insgesamt waren die philosophischen Debatten innerhalb der Zweiten Inter-
               nationale von den allgemeinen philosophischen Konjunkturen in der 2. Hälfte
               des 19. Jahrhunderts geprägt. Neukantianismus, ein spinozistisch eingefärbter
               Monismus und ein szientifischer Materialismus und Positivismus dominierten
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               wie auch sonst,  nur dass im Rahmen der Arbeiterbewegung die Verträglich-
               keit  bzw.  Unverträglichkeit dieser Positionen  mit  den jeweils für  wesentlich
               erachteten sozialistischen Theorien und Programmen zusätzlich erörtert wurde.
               Hegel und Marx – diese Zusammenstellung, welche die philosophischen De-
               batten des 20. Jahrhunderts ganz entscheidend geprägt hat – war noch am Ende
               des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts kaum verbreitet.
                   Die neue philosophische Kanonbildung mit Hegel ist das Produkt einer
               anderen Kanonbildung, genauer gesagt: des Streits um den kanonischen, den
               »wahren« Marx, wie er seit den Revisionismusdebatten und dann verstärkt am
               Anfang des 20. Jahrhunderts in den Auseinandersetzungen um Massenstreiks
               und die Stellung zum europäischen Krieg geführt wurde. Da beide Seiten –
               ›Orthodoxe‹ wie Kautsky und ›Revisionisten‹ wie Bernstein – Marx für sich
               beanspruchen zu können meinten, hatten sie auch ein Interesse an der Ver-
               öffentlichung weiterer Texte, die Marx’ politische Positionen dokumentierten.
               So war es schließlich eine Briefedition, die den Anstoß dazu gab, Hegel und
               Marx zusammenzubringen. Im September 1913 erschien eine vierbändige Aus-
               wahl des Briefwechsels zwischen Marx und Engels, für die August Bebel und
               Eduard Bernstein als Herausgeber verantwortlich zeichneten.  Dieser Brief-
                                                                  27
               wechsel wurde unmittelbar nach Erscheinen von dem unter seinem Deckna-
               men  Lenin  in  die  Geschichte  eingegangenen  russischen  Marxisten  Uljanow
               durchgearbeitet. Hierbei machte Lenin eine Entdeckung, die sein Verständnis
               der Marxschen Theorie gründlich änderte. Bis dahin hatte er, dem mainstream


               25  Vgl. Andreas Arndt, Hegel-Kritik, in: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, hg.
                   v. Wolfgang Fritz Haug, Bd. 5, Hamburg; Berlin 2002, 1243-1258; Andreas Arndt, Lenin
                   – Politik und Philosophie. Zur Entwicklung einer Konzeption materialistischer Dialektik,
                   Bochum 1982, 597ff.
               26  Vgl. Andreas Arndt, Walter Jaeschke (Hg.), Materialismus und Spiritualismus. Philoso-
                   phie und Wissenschaften nach 1848, Hamburg 2000.
               27  Die Ausgabe erschien 1913 in Stuttgart.
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