Page 170 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
P. 170
168 Andreas Arndt
wie es auch in den Vorlesungen geschehen war – durch die Stimme des Meisters
mit Leben zu füllen. Dass diese Stimme nur durch sekundäre, vielfach nicht
zweifelsfreie Überlieferungen hörbar wurde, focht die Herausgeber dabei ebenso
wenig an wie die Kompilation von Versatzstücken unterschiedlichster Jahrgän-
ge der Kollegien, zum Teil bis in die Jenaer Periode zurück. Durch die Zusätze
schwoll der Grundriss auf drei stattliche Bände an, die nun den Eindruck ei-
ner geschlossenen Durchführung des Systems in den drei Bestandteilen Logik,
Naturphilosophie und Philosophie des Geistes erwecken sollten. Um Schärfe
und Klarheit des allein editorisch herbeigezauberten geschlossenen Systems zu
befördern, schreckten die Herausgeber auch vor stillschweigenden Eingriffen in
den Hegelschen Text nicht zurück. In der Philosophie des subjektiven Geistes
19
gibt es bei 95 Paragrafen über 150 Eingriffe, in der Naturphilosophie wurde
sogar die Paragrafenfolge geändert. Die als kanonisch angesehene Gestalt des
Hegelschen Systems wurde zum Teil gegen Hegel geschaffen.
Der Enzyklopädie standen die Vorlesungen zur Seite, in denen Hegel
Rechtsphilosophie, Ästhetik, Religionsphilosophie und Geschichte der Philo-
sophie behandelt hatte und auf denen nicht zuletzt seine große Wirkung auf die
Zeitgenossen gerade in seiner Berliner Zeit beruhte. Hinsichtlich der Rechts-
philosophie, zu der ja ein Hegelsches Kompendium vorlag, verfuhr Eduard
Gans wie die Herausgeber der Enzyklopädie. Er reicherte den Text mit Zusätzen
an. Bei den anderen Vorlesungen gingen die Herausgeber daran, einen synthe-
tischen Text zu erzeugen. Sie kompilierten Kollegnachschriften verschiedenster
Jahrgänge untereinander und zum Teil mit Hegelschen Manuskripten zu einem
Ganzen, das so weder im Nachlass vorlag noch in den Vorlesungen so vor-
getragen worden war. Da die zugrundeliegenden Manuskripte vielfach – zum
Teil wohl sogar absichtlich – der weiteren Forschung entzogen wurden, lässt
sich das dadurch entstandene trübe Gemisch kaum mehr aufklären. Erfolgreich
war dieses Verfahren jedoch nicht nur im Blick auf die Hegel-Rezeptionen des
späteren 19. und des 20. Jahrhunderts, sondern es fand auch sehr bald Nach-
ahmer: Die in der Freundesvereinsausgabe als Novum eingeführte Verbindung
von Autortext und Kollegnachschriften wurde wenig später von der Schleier-
macher-Ausgabe übernommen.
Das Bemühen der Herausgeber, den Eindruck einer systematischen Ge-
schlossenheit der Hegelschen Philosophie zu erzeugen, hatte zur Konsequenz,
dass die Entwicklungsgeschichte weitgehend ausgeblendet wurde. Auch die
19 Jamme, Editionspolitik (wie Anm. 14), 91.