Page 170 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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                 wie es auch in den Vorlesungen geschehen war – durch die Stimme des Meisters
                 mit Leben zu füllen. Dass diese Stimme nur durch sekundäre, vielfach nicht
                 zweifelsfreie Überlieferungen hörbar wurde, focht die Herausgeber dabei ebenso
                 wenig an wie die Kompilation von Versatzstücken unterschiedlichster Jahrgän-
                 ge der Kollegien, zum Teil bis in die Jenaer Periode zurück. Durch die Zusätze
                 schwoll der Grundriss auf drei stattliche Bände an, die nun den Eindruck ei-
                 ner geschlossenen Durchführung des Systems in den drei Bestandteilen Logik,
                 Naturphilosophie und Philosophie des Geistes erwecken sollten. Um Schärfe
                 und Klarheit des allein editorisch herbeigezauberten geschlossenen Systems zu
                 befördern, schreckten die Herausgeber auch vor stillschweigenden Eingriffen in
                 den Hegelschen Text nicht zurück. In der Philosophie des subjektiven Geistes
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                 gibt es bei 95 Paragrafen über 150 Eingriffe,  in der Naturphilosophie wurde
                 sogar die Paragrafenfolge geändert. Die als kanonisch angesehene Gestalt des
                 Hegelschen Systems wurde zum Teil gegen Hegel geschaffen.
                    Der  Enzyklopädie  standen  die  Vorlesungen  zur  Seite,  in  denen  Hegel
                 Rechtsphilosophie, Ästhetik, Religionsphilosophie und Geschichte der Philo-
                 sophie behandelt hatte und auf denen nicht zuletzt seine große Wirkung auf die
                 Zeitgenossen gerade in seiner Berliner Zeit beruhte. Hinsichtlich der Rechts-
                 philosophie,  zu  der  ja  ein  Hegelsches  Kompendium  vorlag,  verfuhr  Eduard
                 Gans wie die Herausgeber der Enzyklopädie. Er reicherte den Text mit Zusätzen
                 an. Bei den anderen Vorlesungen gingen die Herausgeber daran, einen synthe-
                 tischen Text zu erzeugen. Sie kompilierten Kollegnachschriften verschiedenster
                 Jahrgänge untereinander und zum Teil mit Hegelschen Manuskripten zu einem
                 Ganzen, das so weder im Nachlass vorlag noch in den Vorlesungen so vor-
                 getragen worden war. Da die zugrundeliegenden Manuskripte vielfach – zum
                 Teil wohl sogar absichtlich – der weiteren Forschung entzogen wurden, lässt
                 sich das dadurch entstandene trübe Gemisch kaum mehr aufklären. Erfolgreich
                 war dieses Verfahren jedoch nicht nur im Blick auf die Hegel-Rezeptionen des
                 späteren 19. und des 20. Jahrhunderts, sondern es fand auch sehr bald Nach-
                 ahmer: Die in der Freundesvereinsausgabe als Novum eingeführte Verbindung
                 von Autortext und Kollegnachschriften wurde wenig später von der Schleier-
                 macher-Ausgabe übernommen.
                    Das Bemühen der Herausgeber, den Eindruck einer systematischen Ge-
                 schlossenheit der Hegelschen Philosophie zu erzeugen, hatte zur Konsequenz,
                 dass  die  Entwicklungsgeschichte  weitgehend  ausgeblendet  wurde.  Auch  die



                 19  Jamme, Editionspolitik (wie Anm. 14), 91.
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