Page 169 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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Kanonbildung bei und mit Hegel          167

               1832 erschienen drei Bände der Werke, nämlich die Philosophischen Abhandlun-
               gen (herausgegeben von Michelet), die Phänomenologie des Geistes (herausgegeben
               von Johannes Schulze) und die Religionsphilosophie (herausgegeben von Marhei-
               neke), letztere auf Basis der Vorlesungen. Die Ausgabe erschien in rascher Folge,
               so dass sie schon 1845 geschlossen vorlag. Mehrere Bände hatten bis dahin be-
               reits eine zweite Auflage erlebt. Die sogenannte Freundesvereinsausgabe wurde
               im 19. Jahrhundert immer wieder nachgedruckt und 1877 um zwei Briefbände
               vermehrt, die Hegels Sohn Karl herausgab. Auch die verbreiteten Werkausgaben
               des 20. Jahrhunderts – Hermann Glockners Jubiläumsausgabe und die Theorie-
               Werkausgabe des Suhrkamp-Verlages – sind im Wesentlichen nur Nachdrucke
               der Freundesvereinsausgabe. Von Marx bis Adorno, so könnte man sagen, ging die
               Auseinandersetzung mit Hegel auf diese Edition zurück und noch heute ist sie,
               trotz der seither erschienenen kritischen Editionen, noch vielfach im Gebrauch
               und bestimmt weiterhin das Hegel-Bild.
                   Hegels Witwe und den Schülern ging es darum, Hegels Philosophie auf
               gültige Weise darzustellen und der Nachwelt zu überliefern. Der wahre Geist
               der Hegelschen Philosophie sollte aus den Werken lebendig werden; in diesem
               Sinne hatte Marheineke schon in der Grabrede gesagt, wie Jesus »sich selbst in
               Leiden und Tod begab, um ewig als Geist zu seiner Gemeinde zurückzukeh-
               ren«, so sei auch Hegel »durch den Tod zur Auferstehung und Herrlichkeit
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               hindurchgedrungen«.  Die Freunde des so »Verewigten« zielten demnach ge-
               radezu auf eine heilsgeschichtliche Wirkung seiner Philosophie, die nach ihrer
               Überzeugung darin begründet war, dass diese – wie Eduard Gans es in seinem
               Nachruf  formulierte  –  den  »Kreislauf«  der  Philosophie  vollendet  habe.  Ein
               »Weiterschreiten« sei »nur als gedankenvolle Bearbeitung des Stoffes nach der
               Art und Methode anzunehmen, die der unersetzlich Verblichene ebenso scharf
               als klar bezeichnet und angegeben hat.«  Tatsächlich wurden Schärfe und Klar-
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               heit erst durch die Ausgabe suggeriert, indem ein Kanon Hegelscher Texte ge-
               bildet wurde, der nicht nur auf einer Auswahl des als bleibend gültig Erachteten
               beruhte, sondern auch auf massiven Eingriffen in die Texte selbst.
                   Die Ausgabe gruppiert sich um den Systemgrundriss, die Enzyklopädie der
               philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Hegels Text wurde von den Her-
               ausgebern durch Auszüge aus Kollegheften ergänzt, um die dürren Paragrafen –



               17  Vgl.  Karl  Rosenkranz,  Georg Wilhelm  Friedrich  Hegels  Leben,  Berlin  1844  (Reprint:
                   Darmstadt 1963), 563.
               18  Nicolin (Hg.), Hegel in Berichten (wie Anm. 15), 496.
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