Page 168 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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Hegels Geschichte der Philosophie ist im Übrigen nur ein Beispiel dafür, wie
wenig eine in der Wissenschaft der Logik begründete systematische Geschlossen-
heit in der Durchführung der Teildisziplinen des Systems tatsächlich erreicht
ist. Das geschlossene Hegelsche System, von dem viel die Rede ist, existiert in
Wirklichkeit gar nicht als ein solches. Was wir haben, ist eine systematische
Grundlegung – eben die Logik (und auch die hatte, wie Hegels spätere Bearbei-
tung der Seinslogik deutlich macht, noch keine endgültige Gestalt gefunden),
ferner ein Grundriss der drei Systemteile – die Enzyklopädie der philosophischen
Wissenschaften (die ebenfalls mehrere Überarbeitungen erfuhr) – sowie Ausfüh-
rungen der in diesem Grundriss skizzierten philosophischen Disziplinen in Vor-
lesungen und bei einer Disziplin auch in einem dazugehörigen Kompendium,
den Grundlinien der Philosophie des Rechts. Die historisch-kritische Hegel-For-
schung hat deutlich gemacht, dass Hegel gerade in seinen Vorlesungen immer
wieder um eine angemessene Darstellung gerungen und deren Struktur verän-
dert hat. Wir können demnach nur von einer Systemkonzeption sprechen, an
der sich Hegel orientiert hat, nicht aber von einem abgeschlossenen System.
Wenn die angebliche Geschlossenheit des Hegelschen Systems gleichwohl bis
heute eilfertige Abwehrreaktionen veranlasst, so liegt dies weniger an dem, was
uns von Hegel überliefert ist, als vielmehr an der Auswahl und Präsentation des
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Überlieferten in der nach Hegels Tod veranstalteten Ausgabe. Unmittelbar nach
Hegels Tod am 14. November 1831 fanden sich, wie die Witwe Marie Hegel
bereits am 17.11. des Todesjahres berichtet, Freunde und Schüler zusammen,
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um eine Ausgabe der Werke und des Nachlasses vorzubereiten. Die Herausge-
ber konstituierten sich schließlich als »Verein der Freunde des Verewigten«, und
unter diesem Namen – als »Freundesvereinsausgabe« – ist die Edition auch be-
kannt und wirkungsmächtig geworden. Bereits am Heiligabend 1831 wurde der
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Verlagsvertrag mit Duncker und Humblot in Berlin abgeschlossen und schon
14 Vgl. ebd. (wie Anm. 13), 502-504; Wilhelm Raimund Beyer, Wie die Hegelsche Freun-
desvereinsausgabe entstand (aus neu aufgefundenen Briefen der Witwe Hegels), in: Deut-
sche Zeitschrift für Philosophie 15 (1967), 563-569; Christoph Jamme, Editionspolitik. Zur
»Freundesvereinsausgabe« der Werke G. W. F. Hegels, in: Zeitschrift für philosophische For-
schung 38 (1984), 83-99.
15 Günther Nicolin (Hg.), Hegel in Berichten seiner Zeitgenossen, Hamburg 1970, 483.
16 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Briefe von und an Hegel, Bd. 4, Teil 1: Dokumente und
Materialien zur Biographie, hg. v. Friedhelm Nicolin, 3. Aufl. Hamburg 1977, 132b-132e.