Page 167 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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Kanonbildung bei und mit Hegel          165

               in der Wissenschaft der Logik. Diese sei das Reich der Wahrheit, »wie sie ohne
               Hülle an und für sich selbst ist«. 11
                   Indem die Logik sich für Hegel als telos der Philosophiegeschichte erweist,
               sieht er sich berechtigt, diese auch als Entwicklungslogik der Philosophiege-
               schichte  zugrundezulegen.  Hegel  wagt  die  Behauptung,  »daß  die  Aufeinan-
               derfolge der Systeme der Philosophie in der Geschichte dieselbe ist als die Auf-
               einanderfolge in der logischen Ableitung der Begriffsbestimmungen der Idee.«
                                                                              12
               Demnach bestimmt sich der philosophische Kanon tatsächlich nach dem ka-
               tegorialen Gerüst der Wissenschaft der Logik. Es ist tatsächlich ein Kanon,
               denn was diesem Gerüst sich nicht einrangieren lässt, fällt aus der Philoso-
               phiegeschichte heraus: Es hat zur Selbsterfassung des Begriffs nichts beigetra-
               gen und ist daher nur noch ein Vergangenes. Der Reichtum der scholastischen
               Philosophie etwa fällt aus dem Hegelschen Raster weitgehend heraus, und dies
               nicht nur deshalb, weil er zu Hegels Zeiten noch weniger erschlossen gewesen
               wäre. Hegel hat hier so gut wie keine eigenen Quellenstudien betrieben und
               auch die vorhandenen Darstellungen nur selektiv ausgewertet.  Zu fragen ist
                                                                  13
               aber nicht nur, ob das, was Hegels Kanon ausschließt, zu Recht ausgeschlossen
               wurde. Zu fragen ist auch, ob die in den Kanon aufgenommenen Positionen
               sich dessen Voraussetzungen überhaupt einfügen. So möchte Hegel das reine
               Sein, den Anfang der Logik, mit der eleatischen Philosophie zusammenbringen
               und Heraklit mit dem Werden, der dritten Kategorie der Logik. Abgesehen
               davon, dass dies historisch prekär ist und auch die zweite Kategorie der Logik,
               das Nichts, vollständig fehlt, beginnt Hegel seine Vorlesungen tatsächlich mit
               den ionischen Naturphilosophen und mit den Pythagoräern, die aber im Blick
               auf die Logik nun nicht mehr zu verorten sind. Dies nährt den Verdacht, dass
               Hegel in der tatsächlichen Durchführung der Geschichte der Philosophie von
               den starken systematischen Voraussetzungen seines Kanons abrückt und dem
               bewährten, weitgehend durch die Überlieferungslage bestimmten Kanon der
               Geschichtsschreibung über die Anfänge der griechischen Philosophie folgt.








               11  Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik. Die Lehre vom Sein (1832), hg.
                   v. Hans-Jürgen Gawoll, Hamburg 1990, 33.
               12  Hegel, Vorlesungen (wie Anm. 7), 27 (Manuskript von 1820).
               13  Walter Jaeschke, Hegel-Handbuch. Leben – Werk – Schule, Stuttgart 2003, 491f.
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