Page 166 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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                 Erfordernissen entsprechend zurückgreifen kann. Die Geschichte der Philoso-
                 phie ist vielmehr die objektive Geschichte der Selbsterfassung des begreifenden
                 Denkens.
                    In dieser Hinsicht setzt sich Hegel von der an der ars critica geschulten
                 Historia critica philosophiae ab, wie sie Jacob Brucker in seiner monumenta-
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                 len Geschichte ausgearbeitet hatte.  Diese kritische Geschichte, die Hegel als
                 Materialsammlung durchaus schätzte und seinen Studenten empfahl, war für
                 ihn insofern  unwissenschaftlich,  als sie  sich  allein  mit  den Zeugnissen  über
                 die Begebenheiten in der Philosophiegeschichte auseinandersetzte, nicht aber
                 mit  dem  inneren  Entwicklungszusammenhang  der  kritisch  referierten  Posi-
                 tionen. Die eigentliche Aufgabe bestehe jedoch darin, diese Positionen unter
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                 die Gestalt des Begriffs zu bringen.  Die historische Kritik ist nur Mittel, die
                 spekulative Wahrheit der jeweiligen historischen Gestalt zu bestimmen. Her-
                 meneutisch betrachtet, dominiert bei Hegel die doktrinale Kritik. Sie bedeutet
                 nicht nur die Vergewisserung des Fortschritts in der Geschichte der Philosophie,
                 sondern sie ist selbst Moment des philosophischen Fortschreitens: »Soll«, wie
                 Hegel sagt, »Altes erneut werden, d. h. eine alte Gestaltung, denn der Gehalt
                 selbst ist ewig jung,« so komme es nicht nur zu einer normativen Restitution
                 des Alten, sondern »die Enthüllung derselben [dieser Gestaltung, Anm. A. A.]
                 durch Aneignung an unsere Gedankenbildung« sei »unmittelbar nicht nur ein
                 Verstehen derselben, sondern ein Fortschreiten der Wissenschaft selbst«. 10
                    In der hermeneutischen Tradition war das »Enthüllen« die Offenlegung
                 eines  verborgenen,  mystischen  Sinnes  über  das Verstehen  des  buchstäblichen
                 Sinnes hinaus. Indem Hegel es unmittelbar mit dem Verstehen identifiziert,
                 wird das Mystische jedoch zugleich zerstört: der sensus mysticus, der ein Ge-
                 heimnis war, ist nun für Begriff und Vernunft offengelegt. Gleichwohl behält
                 das Enthüllen des sensus mysticus die Bedeutung eines höheren Verstehens: der
                 Begriff sei »das Verstehen seiner selbst und der begrifflosen Gestalt«, und dieses
                 »Verstehen seiner selbst« vollziehe sich in der Geschichte der Philosophie als
                 Selbstentwicklung des Begriffs. Die Geschichte der Enthüllungen komme dort
                 an ein Ende, wo der Begriff sich selbst völlig durchsichtig geworden ist, nämlich




                 8   Jacob Brucker, Historia critica philosophiae a mundi incunabulus ad nostram usque ae-
                    tatem deducta, 5 Bde., Leipzig 1742–1744.
                 9   Hegel, Enzyklopädie (wie Anm. 1), 18f.
                 10  Ebd., 19.
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