Page 165 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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Kanonbildung bei und mit Hegel          163

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               Für  Hegel  ist,  wie  bereits  gesagt,  die  Beschäftigung  mit  der  Geschichte  der
               Philosophie erinnernde Vergegenwärtigung des in ihr Gedachten. Dies ist aber
               nicht so zu verstehen, als ob ein aus dem Zeitgeist entspringendes Bedürfnis der
               Gegenwart den Maßstab für die Unterscheidung aktualisierbarer und abgelebter
               Gestalten der Philosophie abgeben würde. Dies würde in der Tat den wechseln-
               den Bedürfnissen des Zeitgeistes entsprechend zu wechselnden Kanons führen,
               begleitet von sogenannten Wiederentdeckungen und Aktualitätsverlusten. He-
               gel bestreitet nicht, dass es solche Konjunkturen des Denkens gibt, die ja heute
               unter den Gesichtspunkten der Karriereplanung und Drittmitteleinwerbung
               von ganz besonderer Bedeutung zu sein scheinen. Hegel bestreitet aber ener-
               gisch, dass die Kurzatmigkeit des Zeitgeistes eine angemessene wissenschaftliche
               Haltung darstelle. Vergegenwärtigung ist nicht Aktualisierung. Das »Faktum
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               der Philosophie«, so sagt Hegel, »ist die schon zubereitete Erkenntnis«,  »der
               reiche Inhalt, den Jahrhunderte und Jahrtausende der erkennenden Tätigkeit
               vor sich gebracht haben«; dieser sei nicht »etwas Historisches, das nur andere
               besessen und für uns ein Vergangenes«. 6
                   Die geschichtlichen Gestaltungen der Philosophie sind gegenwärtig nicht
               deshalb, weil sie einer Aktualisierung zugänglich sind, sondern deshalb, weil sie
               als Momente in die jeweilige Entwicklungsstufe des Begriffs aufgehoben sind;
               wir haben es im philosophischen Denken schon immer mit ihrem begrifflichen
               Gehalt zu tun. Um diesen begrifflichen Gehalt, und ausschließlich um ihn,
               geht es nach Hegel in der Geschichte der Philosophie. Zwar erscheint diese
               Geschichte auch als eine »Galerie der Heroen der denkenden Vernunft«, aber
               diese Heroen zeichnen sich gerade dadurch aus, dass in ihrem Denken die Indi-
               vidualität zurücktritt und sie sich dem Denken des Denkens selbst überlassen;
               ihre Hervorbringungen, so sagt Hegel, seien umso vortrefflicher, je mehr das
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               »eigentümlichkeitslose Denken selbst das produzierende Subjekt ist«.  Die Ge-
               schichte der Philosophie ist daher keine Sammlung von Lehrmeinungen und
               auch kein Vorrat an Denkwerkzeugen, auf die man den jeweiligen aktuellen



               5   Hegel, Enzyklopädie (wie Anm. 1), 6.
               6   Ebd., 16.
               7   Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Teil 1:
                   Einleitung in die Geschichte der Philosophie. Orientalische Philosophie, hg. v. Pierre Gar-
                   niron und Walter Jaeschke, Hamburg 1994, 5f. (Manuskript von 1823).
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