Page 164 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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                 lich innerhalb der Voraussetzungen seiner Zeit – so etwas wie ›Globalisierung‹
                 voraus. Gültige Maßstäbe, die als Begriffe Bestand haben, ergeben sich erst
                 im Blick auf eine gegenwärtige Totalität der geistigen Wirklichkeit, in welche
                 die Partialgeschichten aufgehoben sind. Die erinnernde Vergegenwärtigung des
                 Werdens dieser Totalität strukturiert Geschichte als Sich-selbst-durchsichtig-
                 Werden  der  Vernunft  oder  des  Begriffs.  Die  historischen  Gestaltungen  der
                 Philosophie  (und  des  Geistes  überhaupt)  werden  als  Momente  des  Begriffs
                 selbst in seiner Entwicklung verstanden. Zu fragen ist – und hiermit möchte
                 ich mich im ersten Teil meiner Ausführungen beschäftigen – ob unter dieser
                 starken Voraussetzung der Totalität so etwas wie ein philosophiegeschichtlicher
                 Kanon überhaupt noch gedacht werden kann. Hegels Philosophie selbst je-
                 denfalls – und hierauf werde ich im zweiten Teil eingehen – ist nach Hegels
                 Tod in einer herkömmlichen Weise ›kanonisiert‹ worden: eine auch ideenpoli-
                 tisch motivierte Edition der Hegel-Schule hat aus heterogenen Überlieferungen
                 ein geschlossenes System zu komponieren versucht. Dieser Versuch hat sich
                 im 19. Jahrhundert für das Hegel-Bild als außerordentlich erfolgreich erwie-
                 sen, wenn er auch nicht die Stellung Hegels als »unwiderlegter Weltphilosoph«
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                 (so der Hegel-Schüler Carl Ludwig Michelet ) sichern konnte. Mit Beginn des
                 20. Jahrhunderts setzte dann, gestützt durch neue Editionen, eine massive Hi-
                 storisierung des Hegel-Bildes ein. Gleichwohl kam es, nicht zuletzt durch eben
                 diese Editionen, zu einer erneuten, wiederum ideenpolitisch motivierten und
                 ideenpolitisch kontrovers ausgetragenen Kanonisierung der Hegelschen Phi-
                 losophie. Hegel – und hiervon handelt der dritte Teil meiner Ausführungen
                 – wurde mit Hilfe des kapriziösen Reizwortes ›Dialektik‹ unter die Vorausset-
                 zungen des Marxschen Denkens eingereiht. Die beiden folgenreichen Kanoni-
                 sierungen, die Hegels Philosophie erlitten hat, geben dann zum Schluss Anlass
                 zu der Frage, wie sich hierzu Hegels eigene Auffassung der Philosophiegeschich-
                 te verhält.












                 4   Carl Ludwig Michelet, Hegel, der unwiderlegte Weltphilosoph, 2. Aufl., Leipzig 1870 (Re-
                    print: Aalen 1983).
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