Page 163 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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Kanonbildung bei und mit Hegel          161

                                        Andreas Arndt

                             Kanonbildung bei und mit Hegel




               Der Begriff ›Kanon‹ steht bei Hegel nicht hoch im Kurs. Wenn ›Kanon‹ eine
               maßgebende Regel zur Beurteilung meint, die unabhängig von der Bestimmt-
               heit des jeweiligen Gegenstandes gilt, dann, so Hegel, bleibt die beurteilende
               Reflexion dem Gegenstand äußerlich. Hegel denkt hierbei an Kant, für den die
               Logik erklärtermaßen nur ein Kanon zur formalen Beurteilung eines Denkens,
               nicht aber Organon der Wahrheit ist.  Maßgebend aber ist für Hegel nicht eine
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               dem Gegenstand äußerlich bleibende formale Regel, sondern das, was er »die
               Sache selbst« nennt und was in letzter Konsequenz der Begriff ist. Dies gilt
               nicht nur für die Logik oder eine bestimmte Philosophie, sondern ist durchaus
               auch auf andere Kanons, d. h. Maßstäbe, anwendbar, denn der Begriff allein ist
               für Hegel wahrhafte Realität: Was vernünftig ist, ist wirklich, und was wirklich
               ist, ist vernünftig. 2
                   Ich möchte diese schwierige und gewiss kontrovers zu diskutierende Po-
               sition hier nicht weiter vertiefen. Wichtig ist, dass für Hegel der Maßstab der
               Beurteilung nichts anderes sein kann als der innere Zusammenhang der er-
               scheinenden Wirklichkeit selbst. Hierfür muss die Wirklichkeit schlechthin auf
               den Begriff gebracht, d. h. als Wirklichkeit des Begriffs eingesehen sein. Ein
               solches Wissen bezeichnet Hegel als ein absolutes Wissen, und dieses Wissen ist
               Resultat der Geschichte des Geistes in ihrem ganzen Umfang, d. h. der Weltge-
               schichte. Es setzt, so Hegel in der ›Vorrede‹ zur Phänomenologie des Geistes, die
               »ungeheure Arbeit der Weltgeschichte« voraus, welche der Weltgeist unternom-
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               men habe, um »das Bewußtsein über sich« zu erreichen.
                   Hegel, für den ja auch die philosophische Geschichtsschreibung erst dort
               beginnt, wo Weltgeschichte geschrieben wird, setzt demnach – selbstverständ-




               1   Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften
                   im Grundrisse, hg. v. Friedhelm Nicolin und Otto Pöggeler, Hamburg 1959, 79, § 52; zu
                   Kant vgl. KrV B, 85.
               2   Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht
                   und  Staatswissenschaft im Grundrisse, hg. v. Hermann Klenner, Berlin 1981, 25.
               3   Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, hg. v. Hans-Friedrich Wes-
                   sels und Heinrich Clairmont, Hamburg 1988, 23.
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