Page 162 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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                    Hier  spielen  Intentionen,  Absichten,  Handlungsziele  und  –  (funktional
                 äquivalente) Strukturen von Macht und Geld, aber auch Erziehung und ihre
                 Institutionen (wie Familie, Staat, Schule und Universität) unter Umständen
                 eine bedeutende Rolle. Für Schulen und Hochschulen werden bekanntlich die
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                 Kanons des Curriculums ministeriell erlassen.  Welchen Einfluss z. B. die je-
                 weiligen väterlichen Bibliotheken auf so bedeutende Geister wie Goethe oder
                 Leibniz hatten, ist allgemein bekannt. Ebenso der Einfluss, die die persönliche
                 Schulkarriere auf den späteren Lebenslauf nimmt. Was man als Schüler nie
                 in der Schule kennen lernte, was man nicht in den Medien liest oder hört,
                 kann man noch nicht einmal ablehnen, geschweige denn schätzen oder gar
                 lieben lernen; es fällt aus dem Bereich möglicher Selektion heraus. Wer nie ein
                 Goethegedicht gelesen oder davon gehört hat, wird sich für diese Lyrik weder
                 begeistern noch sie ablehnen können.
                    Die Formulierung bringt zum Ausdruck, dass klassische Literatur und Mu-
                 sik als ein Selektionsangebot tradiert werden, das immer abgelehnt oder ange-
                 nommen werden kann (denn Selektion ist immer zweiwertig; es gibt eine posi-
                 tive und eine negative Selektion). Man muss die Geschichte nicht mögen, um
                 das Gespräch darüber fortzusetzen, man muss die europäische Kultur nicht nur
                 schätzen und bewundern, sondern vielleicht auch erschreckend finden. Jedoch
                 nur dann, wenn es noch einen Kanon gemeinsamer Themen gibt, kann sich
                 Kommunikation – positiv oder negativ – und damit Kultur fortsetzen. Kultur
                 ›lebt‹ so lange, wie man über ihre Klassiker spricht, über sie streitet, sie zitiert,
                 sie verwünscht, sich an ihnen reibt. Erst wenn das Gespräch verstummt ist,
                 stirbt auch die Kultur. Analog zum Märchen aus 1001 Nacht, wo Scheherazade
                 so lange nicht stirbt, wie der Faden der Erzählung in der folgenden Nacht fort-
                 gesponnen wird. Unsere Kultur stirbt – wenn sie stirbt – wie Scheherazade erst
                 dann, wenn ein Morgen graut und alles gesagt und erzählt ist – die vertrauten
                 Gebete nicht mehr gemurmelt, die Gedichte der Alten nicht mehr erinnert und
                 die Lieder nicht mehr gesungen werden, die einmal allen vertraut waren.

                 37  Ein aktuelles Beispiel: »Das Pekinger Schulbuchkomitee hat einige einschneidende neue
                    Richtlinien für den Literaturunterricht in Mittelschulen herausgegeben. Laut einem Be-
                    richt der Zeitung Qingnian Zhoumo (»Jugendwochenende«) sollen Franz Kafkas Die Ver-
                    wandlung, Albert Camus’ Der Mythos des Sisyphos und Auszüge aus dem Roman Hundert
                    Jahre Einsamkeit von Gabriel García Márquez in den Kanon aufgenommen werden. Einer
                    der Verantwortlichen sagte: »Wir berühren Dinge, an die man früher nicht zu rühren ge-
                    wagt hat.« Die Kung-Fu-Romane des populären Hongkonger Autors Jin Yong (Louis Cha)
                    sollen von den Schülern ebenso studiert werden wie Texte, die ihre Internetkompetenz
                    steigern. Dafür wird die Literatur in klassischem Chinesisch stark reduziert.« (zitiert nach
                    Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 202 vom 31. 8. 2007, 36).
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