Page 162 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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160 Alfred K. Treml
Hier spielen Intentionen, Absichten, Handlungsziele und – (funktional
äquivalente) Strukturen von Macht und Geld, aber auch Erziehung und ihre
Institutionen (wie Familie, Staat, Schule und Universität) unter Umständen
eine bedeutende Rolle. Für Schulen und Hochschulen werden bekanntlich die
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Kanons des Curriculums ministeriell erlassen. Welchen Einfluss z. B. die je-
weiligen väterlichen Bibliotheken auf so bedeutende Geister wie Goethe oder
Leibniz hatten, ist allgemein bekannt. Ebenso der Einfluss, die die persönliche
Schulkarriere auf den späteren Lebenslauf nimmt. Was man als Schüler nie
in der Schule kennen lernte, was man nicht in den Medien liest oder hört,
kann man noch nicht einmal ablehnen, geschweige denn schätzen oder gar
lieben lernen; es fällt aus dem Bereich möglicher Selektion heraus. Wer nie ein
Goethegedicht gelesen oder davon gehört hat, wird sich für diese Lyrik weder
begeistern noch sie ablehnen können.
Die Formulierung bringt zum Ausdruck, dass klassische Literatur und Mu-
sik als ein Selektionsangebot tradiert werden, das immer abgelehnt oder ange-
nommen werden kann (denn Selektion ist immer zweiwertig; es gibt eine posi-
tive und eine negative Selektion). Man muss die Geschichte nicht mögen, um
das Gespräch darüber fortzusetzen, man muss die europäische Kultur nicht nur
schätzen und bewundern, sondern vielleicht auch erschreckend finden. Jedoch
nur dann, wenn es noch einen Kanon gemeinsamer Themen gibt, kann sich
Kommunikation – positiv oder negativ – und damit Kultur fortsetzen. Kultur
›lebt‹ so lange, wie man über ihre Klassiker spricht, über sie streitet, sie zitiert,
sie verwünscht, sich an ihnen reibt. Erst wenn das Gespräch verstummt ist,
stirbt auch die Kultur. Analog zum Märchen aus 1001 Nacht, wo Scheherazade
so lange nicht stirbt, wie der Faden der Erzählung in der folgenden Nacht fort-
gesponnen wird. Unsere Kultur stirbt – wenn sie stirbt – wie Scheherazade erst
dann, wenn ein Morgen graut und alles gesagt und erzählt ist – die vertrauten
Gebete nicht mehr gemurmelt, die Gedichte der Alten nicht mehr erinnert und
die Lieder nicht mehr gesungen werden, die einmal allen vertraut waren.
37 Ein aktuelles Beispiel: »Das Pekinger Schulbuchkomitee hat einige einschneidende neue
Richtlinien für den Literaturunterricht in Mittelschulen herausgegeben. Laut einem Be-
richt der Zeitung Qingnian Zhoumo (»Jugendwochenende«) sollen Franz Kafkas Die Ver-
wandlung, Albert Camus’ Der Mythos des Sisyphos und Auszüge aus dem Roman Hundert
Jahre Einsamkeit von Gabriel García Márquez in den Kanon aufgenommen werden. Einer
der Verantwortlichen sagte: »Wir berühren Dinge, an die man früher nicht zu rühren ge-
wagt hat.« Die Kung-Fu-Romane des populären Hongkonger Autors Jin Yong (Louis Cha)
sollen von den Schülern ebenso studiert werden wie Texte, die ihre Internetkompetenz
steigern. Dafür wird die Literatur in klassischem Chinesisch stark reduziert.« (zitiert nach
Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 202 vom 31. 8. 2007, 36).