Page 161 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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Klassiker: ›Herstellung‹ oder ›Herausbildung‹?  159

               Zeiten durch »Restriktion des Möglichen zur Erweiterung der Möglichkeiten« 35
               beigetragen haben. In der Moderne, und vor allem in der Postmoderne (dem
               Zeitalter des Internets und der neuen Medien), wird es durch die nicht mehr
               begrenzbare Freiheit von Wort und Schrift immer schwieriger, ja vielleicht un-
               möglich, Kanons zu stabilisieren.
                   Im Laufe der Zeit drängen immer neue Autoren nach und deshalb ist es
               wahrscheinlich, dass auch die Namen der Klassiker – nach einer gewissen Zeit
               der  evolutionären  Überprüfung  und  Stabilisierung  –  veränderbar  sind.  Alte
               Namen treten zurück und neue an deren Stelle. Durch räumliche Begrenzung
               (auf eine Kultur) findet eine Art Vorselektion der Variationen statt, auf die man
               selektiv zurückgreifen kann. In der Zeitdimension wird durch Temporalisie-
               rung diese Reduktion tendenziell wieder aufgehoben und für Spielräume neu-
               er Variationen genutzt. Das was Kontingenzen durch Zeitverzögerung, durch
               kompensatorische Langsamkeit einschränkt, erweitert und verändert sich im
               Verlaufe der Zeit (in Maßen) selbst – eine andere Formulierung dafür, dass
               auch Klassiker ein Produkt der Evolution (des menschlichen Geistes) sind. In
               der Diffusionsforschung spricht man in diesem Zusammenhang metaphorisch
               von einem »Wandern ohne Ziel«, wenn man die evolutionäre (teleonome) Ver-
               breitungslogik auch von Ideen (ohne Agens) umschreiben will. 36
                   Wenn  man  (schöpfungstheoretisch)  überhaupt  diese  Art  von  Evolution
               wirkungsvoll ›herstellen‹ bzw. planen kann, dann wohl nur über die Einfluss-
               nahme auf die Vorselektionen. Damit Evolution in Gang kommt, müssen Va-
               riationen in den Spielraum möglicher Selektionen kommen. Das Buch, das
               nicht verlegt – das von keiner Buchhandlung ausgelegt wird, das in keinem
               Katalog erscheint, wird auch nicht gelesen werden können. Das Lied, das nie
               im Radio oder Fernsehen gespielt wird, kann niemals in die Charts gelangen.
               Kurzum, in Anbetracht der hohen Zahl von Variationen ist die entscheidende
               Stelle intentionaler Einflussnahme (Herstellung) auf die Herausbildung von sta-
               bilisierten Strukturen die der sogenannten Vorselektionen. Vorselektionen sind
               Selektionen über die Bandbreite der Variationen, auf die Selektionsinstanzen
               zugreifen können. Sie sind vor allem dann nötig, wenn die entscheidende Eng-
               stelle weiterer Evolution im Bereich der Stabilisierung liegt.



               35  Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der
                   modernen Gesellschaft, Bd. 2, Frankfurt am Main 1981, 252.
               36  Vgl. Gero Vogl, Wandern ohne Ziel. Von der Atomdiffusion zur Ausbreitung von Lebewe-
                   sen und Ideen, Heidelberg 2007.
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