Page 160 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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                    Die  Folge  ist  ein  harter  und  zunehmender  Selektionsprozess  mit  einer
                 deutlichen Tendenz zur negativen Selektion. Im harten Konkurrenzkampf der
                 Meme versuchen Autoren und Verleger immer wieder die Ebene der Variati-
                 on mit der der Selektion kurzzuschließen und so die Evolution einflussreicher
                 Semantik zu steuern. Insbesondere Geld und Macht können hier funktional
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                 äquivalent eingesetzt werden. Das kann vorübergehend gelingen und etwa zu
                 sogenannten Strohfeuererfolgen führen: Autoren und ihre Werke werden durch
                 Werbung (oder durch staatliche Subventionen) stark nachgefragt und erreichen
                 unter  Umständen  Millionenauflagen.  Aber  wenige  Jahrzehnte  später  erweist
                 sich die Hoffnung auf Stabilisierung als Illusion. Wer kennt sie heute noch, die
                 Strohfeuerautoren mit ihren zu Lebzeiten abenteuerlich hohen Auflagen? Was
                 bleibt über Jahrhunderte, ja über Jahrtausende – das sind und bleiben unsere
                 Klassiker. Sie können nicht veralten, weil sie schon alt sind. Sie allein haben
                 den Schritt von der Selektion zur Stabilisierung geschafft. Sie sterben wie alle
                 Götter erst dann, wenn keiner mehr ihrer gedenkt, d. h. wenn das Gespräch
                 über sie verstummt, keiner sie mehr zitiert, niemand mehr ihre Lieder hört oder
                 singt und keiner mehr ihre Gedichte zitiert. Solange dies nicht der Fall ist, sind
                 Klassiker eine Art Als-ob-Götter, an denen man sich durch Nachfolge, Vereh-
                 rung und heilige Scheu in der unübersehbaren Vielfalt der Sinnproduktionen
                 orientieren kann.
                    Für den Einzelnen gibt es trotz allem noch viel zu viele Klassiker. Es gibt
                 auch viel mehr Klassiker, als der einzelne rezipieren und schätzen lernen kann
                 und  deshalb:  Kontingenz  bei  den  Kontingenzunterbrechern.  Es  bedarf  des-
                 halb der Vorselektionen, die den Varianzbereich, auf den man selektiv (durch
                 Zufälle,  durch  Sozialisation,  durch  Erziehung)  zurückgreift,  begrenzen.  Die
                 wichtigste  Form  dieser Vorselektion  dürfte  die  Sozialisation  innerhalb  einer
                 bestimmten Kultur sein. Jede Kultur – und es gibt auch Kulturen der wissen-
                 schaftlichen Disziplinen – hat ihre Klassiker, und Klassiker sind deshalb kultur-
                 oder fachspezifisch. In einer Kultur kann durch Kanonbildung dieser Effekt der
                 Vorselektion noch einmal verdichtet werden. Die Geschichte zeigt – nicht nur
                 seit dem Alexandrinischen Kanon – dass Kanons besonders in vormodernen
                 34  Ein Beispiel für das finanzielle Kriterium (›Geld‹) ist der aufwändige und teure Versuch,
                    dem Roman Vom Winde verweht einen Folgeband anzuhängen. Heute spricht niemand
                    mehr davon. Ein Beispiel für das Kriterium ›Macht‹ sind Diktaturen, die versucht ha-
                    ben, Werken oder Autoren den Stempel des Klassischen aufzudrücken. Hitlers Mein
                    Kampf  oder die gesammelten Werke der ›Klassiker‹ Karl Marx und Friedrich Engels
                    sind prominente Beispiele, nicht zuletzt auch dafür, wie weit und wie lange man Selek-
                    tionen stabilisieren kann, wenn man die Macht dazu hat.
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