Page 160 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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158 Alfred K. Treml
Die Folge ist ein harter und zunehmender Selektionsprozess mit einer
deutlichen Tendenz zur negativen Selektion. Im harten Konkurrenzkampf der
Meme versuchen Autoren und Verleger immer wieder die Ebene der Variati-
on mit der der Selektion kurzzuschließen und so die Evolution einflussreicher
Semantik zu steuern. Insbesondere Geld und Macht können hier funktional
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äquivalent eingesetzt werden. Das kann vorübergehend gelingen und etwa zu
sogenannten Strohfeuererfolgen führen: Autoren und ihre Werke werden durch
Werbung (oder durch staatliche Subventionen) stark nachgefragt und erreichen
unter Umständen Millionenauflagen. Aber wenige Jahrzehnte später erweist
sich die Hoffnung auf Stabilisierung als Illusion. Wer kennt sie heute noch, die
Strohfeuerautoren mit ihren zu Lebzeiten abenteuerlich hohen Auflagen? Was
bleibt über Jahrhunderte, ja über Jahrtausende – das sind und bleiben unsere
Klassiker. Sie können nicht veralten, weil sie schon alt sind. Sie allein haben
den Schritt von der Selektion zur Stabilisierung geschafft. Sie sterben wie alle
Götter erst dann, wenn keiner mehr ihrer gedenkt, d. h. wenn das Gespräch
über sie verstummt, keiner sie mehr zitiert, niemand mehr ihre Lieder hört oder
singt und keiner mehr ihre Gedichte zitiert. Solange dies nicht der Fall ist, sind
Klassiker eine Art Als-ob-Götter, an denen man sich durch Nachfolge, Vereh-
rung und heilige Scheu in der unübersehbaren Vielfalt der Sinnproduktionen
orientieren kann.
Für den Einzelnen gibt es trotz allem noch viel zu viele Klassiker. Es gibt
auch viel mehr Klassiker, als der einzelne rezipieren und schätzen lernen kann
und deshalb: Kontingenz bei den Kontingenzunterbrechern. Es bedarf des-
halb der Vorselektionen, die den Varianzbereich, auf den man selektiv (durch
Zufälle, durch Sozialisation, durch Erziehung) zurückgreift, begrenzen. Die
wichtigste Form dieser Vorselektion dürfte die Sozialisation innerhalb einer
bestimmten Kultur sein. Jede Kultur – und es gibt auch Kulturen der wissen-
schaftlichen Disziplinen – hat ihre Klassiker, und Klassiker sind deshalb kultur-
oder fachspezifisch. In einer Kultur kann durch Kanonbildung dieser Effekt der
Vorselektion noch einmal verdichtet werden. Die Geschichte zeigt – nicht nur
seit dem Alexandrinischen Kanon – dass Kanons besonders in vormodernen
34 Ein Beispiel für das finanzielle Kriterium (›Geld‹) ist der aufwändige und teure Versuch,
dem Roman Vom Winde verweht einen Folgeband anzuhängen. Heute spricht niemand
mehr davon. Ein Beispiel für das Kriterium ›Macht‹ sind Diktaturen, die versucht ha-
ben, Werken oder Autoren den Stempel des Klassischen aufzudrücken. Hitlers Mein
Kampf oder die gesammelten Werke der ›Klassiker‹ Karl Marx und Friedrich Engels
sind prominente Beispiele, nicht zuletzt auch dafür, wie weit und wie lange man Selek-
tionen stabilisieren kann, wenn man die Macht dazu hat.