Page 136 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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134                      Conrad Wiedemann

                    In Berlin stellt sich die Konstellation ganz anders dar. Hier sind, von weni-
                 gen Ausnahmen abgesehen (z. B. Ramler und Langhans), die Klassizisten kaum
                 älter als die Romantiker. Da es eine räumliche Trennung nicht gibt, lebt man
                 miteinander, um nicht zu sagen: durcheinander. Freie Optionalität und kultu-
                 relle Polyphonie stehen hier in einem Bedingungsverhältnis. Es sind ja nicht
                 nur die Keime des Klassizismus  (Langhans, Schadow) und Neuhumanismus
                 (Moritz, W. von Humboldt), die um 1790 in der Stadt so unerwartet aufgehen.
                 Noch unerwarteter ist die zeitgleiche Grundlegung der Romantik durch Tiecks
                 Skakespeare-Umdeutung und Tieck-Wackenroders Frankenreise, beide 1793 –
                 ein Vorgang, dem Tiecks wenig bekannter Schülerprotest gegen den Geist des
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                 humanistischen Gymnasiums vorangeht.  Dieses quasi oppositionelle Neben-
                 einander wird überlagert von den berüchtigten Religions- und Zensuredikten
                 des Königs und seines Ministers Wöllner (1788), die sich gegen die Missachtung
                 der altlutherischen Volksfrömmigkeit durch die aufgeklärte Theologie der Stadt
                 (sogenannter Berolinismus) richten und damit im Grunde der romantischen
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                 Bewegung präludieren.  Realiter bewirkt dieser Angriff auf die dem neuen Kö-
                 nig verhasste friderizianische Aufklärung allerdings etwas anderes, nämlich eine
                 lawinenartige publizistische Gegenwehr, die im Endeffekt zu einer Befestigung
                 der Berliner Aufklärung bis hin zu den großen Reformen nach 1806 führt. Das
                 Kaleidoskop dieser Synchronie ließe sich leicht ergänzen, etwa um die frühe Ber-
                 liner Kant-Diskussion (Jenisch, Maimon u. a.) und die Akademiereformen, vor
                 allem aber durch die Spiegelungen des Gesamtvorgangs in der hochdifferenzierten
                 Geselligkeitsbewegung und der virtuosen Publikumspolitik des Ifflandschen
                 Nationaltheaters. Doch das Gesagte genügt, um die angesprochene Kontingenz-
                 erfahrung zu illustrieren. Es gibt viele Optionen, die, wenn sie getroffen sind,
                 auf gegenseitige Nichtwahrnehmung, auf offenen Streit, aber auch auf sehr
                 individuelle Mischkonzepte hinauslaufen können. Kleist und Schinkel mögen
                 Klassizisten mit romantischem Einschlag gewesen sein, Schleiermacher eher ein
                 Romantiker mit klassizistischem Einschlag. Bei Karl Philipp Moritz scheint das
                 Mischungsverhältnis fast unauflösbar. Spätestens bei der Frage, warum auch die
                 Aufklärer in Berlin nicht abtreten können, kommt man zu der Einsicht, dass sich
                 hinter den genannten Optionen in der offenen Gesellschaft deutliche funktionale


                 15  Vgl. Wolfgang Rath, Ludwig Tieck. Das vergessene Genie, Paderborn 1996, 30ff.
                 16  Vgl. Conrad Wiedemann, Das Stottern des Jupiterdiskurses. Ein genealogischer Versuch
                    über die andere Klassik von Berlin, in: Michael Knoche, Lea Ritter-Santini (Hg.), Die
                    europäische République des lettres in der Zeit der Weimarer Klassik, Göttingen 2007, 65-
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