Page 140 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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                 verdankt sich die Risikobereitschaft, mit der die jungen Jüdinnen Henriette
                 Herz und Rahel Levin aus ihrem orthodoxen Milieu ausbrechen, um in ihren
                 offenen Salons die gesellschaftliche Ordnung herauszufordern – aber ebenso das
                 emanzipatorische Wollen eines Langhans, Schadow oder Wilhelm von Humboldt,
                 von dem ich sprach. Und erst recht die Kühnheit des Proletariersohnes Moritz,
                 sein Jugendelend zum psychoanalytischen Erzählparadigma zu erheben und im
                 Gegenzug das erste Manifest moderner Kunstautonomie zu entwerfen. Oder
                 schließlich Wackenroders Ausrufung einer säkularen Kunstreligion und Ludwig
                 Tiecks Erkundungszüge in die Welt des Unbewussten. Dies alles geschieht in
                 den Jahren um 1790 und bildet nur den Auftakt für eine lange Reihe ähnlicher
                 Experimente. Ich nenne nur Schleiermachers Neudefinition der Religion aus dem
                 Gefühl kosmischer Abhängigkeit und wenig später seine Begründung der mo-
                 dernen Hermeneutik, Alexander von Humboldts Aufbruch nach Südamerika als
                 Ausgangspunkt eines integralen Weltbeschreibungsprojekts, Kleists Experimente
                 mit psychischen Grenzzuständen oder mit einer großstädtischen Boulevardpresse,
                 Zelters Grundlegung der bürgerlichen Musikkultur durch seine Singakadamie,
                 Niebuhrs Begründung der Historischen Schule aus dem Geist der Quellenkri-
                 tik, Humboldts Begründung der Vergleichenden Sprachwissenschaft, Schinkels
                 historistische Stadtbauentwürfe und E. T. A. Hoffmanns urbanes Doppelleben-
                 Projekt und seine juristische Verweigerung der Demagogenverfolgung.
                    Was ist an diesem Aggregat, in dem der Antikebezug nur ein besonders mar-
                 kantes Teilelement darstellt, klassisch in jenem modernen Sinn, nach dem ein No-
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                 belpreisträger von heute Johann Sebastian Bach als Inbegriff eines »Klassikers«
                 betrachten kann? Zunächst natürlich fast jedes der Einzelphänomene, denn wer
                 stieße auf Widerspruch, wenn er Moritz, die Humboldts, Schadow, Schinkel,
                 Schleiermacher, Rahel Levin, Niebuhr, Kleist oder sogar E. T. A. Hoffmann unter
                 die Klassiker ihres Metiers rechnete? Sie alle stehen, wie oben erwähnt, in jedem
                 Fall für Ideen und Formen, die nachhaltig gewirkt haben und noch wirken.
                    Doch das wäre nur die halbe Antwort. Wer eine »Berliner Klassik« zur De-
                 batte stellt, muss – Innovation und Folgelast – die Frage der Klassizität auch an
                 das Gesamtphänomen stellen.
                    Vielleicht kommt man der Sache näher, wenn man die Weimarer Befehdung
                 und die Berliner Verarbeitung der Kontingenzerfahrung, beide im Übrigen im
                 Namen individueller Freiheit, als zwei klassische Wege in die Moderne versteht.
                 Der erstere liefe dann im Kern auf einen Kampf gegen die Naturentfremdung



                 23  Vgl. John M. Coetzee, Was ist ein Klassiker? In: Essays, Frankfurt am Main 2006, 11-30.
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