Page 135 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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Die Klassizität des Urbanen           133

               mit unentfremdeter Naturnähe konnotiert bleibt und als solches in eine Reihe
               idealistischer, geschichtsphilosophischer und individualpsychologischer Bil-
               dungsstrategien eingeht, wird es in Berlin – den urbanen Gegebenheiten und
               den westeuropäischen Emanzipationsbewegungen entsprechend – vor allem als
               Urbild einer freien Bürgerkultur verstanden, wobei beide, Weimar und Berlin,
               einer spezifisch deutschen Ausgrenzung der römischen Antike folgen, worin
               sich offensichtlich die wachsenden intellektuellen Vorbehalte gegen die heilig-
               römische Reichstradition als der »gotischen Ruine einer alten barbarischen
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               Verfassung« (Schiller)  spiegeln. Während aber Weimar, das Palladium der deut-
               schen Streukultur hochhaltend, nur noch auf eine kulturelle Identität des Reichs
               setzt, für die es selbst zu stehen meint, sind in Berlin, das sich durchaus nicht
               als kulturelles Zentrum über Preußen hinaus versteht, die unterschiedlichsten
               politischen und gesellschaftlichen Entwürfe im Spiel, die sich nur einmal, in der
               kurzen Reformzeit, zu einem Gesamtentwurf verdichten. Kulturelle Homogenität
               gehört nicht zum urbanen Erfahrungshorizont.
                   So gesehen lässt sich das Phänomen Weimar eher mit dem Vokabular einer
               spekulativen Entfremdungskritik, das Phänomen Berlin eher mit dem einer
               empirischen Kontingenzkritik beschreiben. Versteht man unter Kontingenz
               die gesellschaftliche Verfügbarkeit vieler Wahlmöglichkeiten, wie sie vor allem
               durch Traditionsverlust, Urbanisierung und Spezialisierung entsteht, dann
               lässt sich in der kulturellen Mobilisierung Berlins mit einigem Recht ein erster
               deutscher Nachweis dafür sehen. Ich will versuchen, dies am Nebeneinander
               von Klassizismus und Romantik zu erörtern. In Weimar und Jena scheint dieses
               Nebeneinander nicht nur topografisch, sondern auch im Sinn einer Generatio-
               nenabfolge geordnet. Den Älteren in Weimar gehört die Idee einer vorgeblich
               antikisch-griechisch genormten Humanität, den Jungen in Jena die Idee einer
               scheinbar unbegrenzten ästhetischen Bewusstseinserweiterung. Das verträgt sich
               nicht gut, aber da man auf Abstand ist und eine Mischung vermeidet, kann
               man sich gegenseitig ertragen, was angesichts der kurzen Dauer der Jenenser
               Romantik (fünf bis sechs Jahre) keine all zu große Herausforderung für die
               langlebige Weimarer Klassik bedeutet. Erst als der Theoriezauber in Jena vorbei
               ist, und auch in Weimar sich das Personal altersbedingt ausdünnt, schlüpft der
               alleingebliebene Goethe in die Rolle des Zeitzeugen, indem er sowohl in den
               zweiten Teil des Faust als auch in die Wahlverwandtschaften romantische Ideen,
               Motive und Gebärden einspeist.


               14  So im Gedichtsentwurf »Deutsche Größe« von 1797 bzw. 1801.
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