Page 133 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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Die Klassizität des Urbanen           131

                   Die Enttäuschungen, die sich die Weimarer Klassik-Didaxe damals einhan-
               delt, machen uns schlagartig bewusst, wie wenig das, was heute den Klassiker
               Goethe ausmacht, mit der Antike zu tun hat. Es sind dies grosso modo der
               Werther, der Faust, der Wilhelm Meister, die Wahlverwandtschaften und vielleicht
               50 große Gedichte, also durchwegs fiktionale Schlüsselwerke seiner lebenslan-
               gen metamorphotischen Ich-Findung. Die Idee, dass »die Griechen den Traum
               des Lebens am schönsten geträumt« hätten,  läuft zwar mit, gewinnt aber in
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               der Konventikelkultur von Weimar und Jena nie einen Bezug zur verfassten
               Gesellschaft der Antike (mit der Ausnahme Wielands). Das ändert sich auch
               bei Schiller nicht, über dessen widersprüchliches Bild von der antiken Welt
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               neuerdings Ernst Osterkamp Erhellendes gesagt hat.  Danach wäre ihm nur
               die polytheistische Naturmythologie entfremdungskritisch tauglich gewesen,
               nicht aber die manifeste Amoral der antiken Bildwelten. Dementsprechend hat
               er auch, von einer späten Ausnahme abgesehen, keine griechischen oder römi-
               schen Dramenvorwürfe aufgegriffen, wie das Corneille, Racine und Voltaire in
               durchaus politischer Absicht getan haben. Wohl aber hat er die Antike in das
               geschichtsphilosophische Lehrgebäude seiner Verlust-Ästhetik eingefügt, mit der
               er heute, im Zeitalter des ökologischen Erschreckens, alles andere als unaktuell
               ist. So gesehen ist der Weimarer Antikebezug eher spekulativ als poetisch. Einen
               Weimar-Kanon antiker Lieblingsautoren und Lieblingskünstler aufzustellen, ist
               (Ausnahme wiederum: Wieland) gar nicht so einfach. Nach einer stabilen Ge-
               nealogie des Weimarer Geistes von 1800 gefragt, käme man eher auf die Reihe
               Spinoza-Rousseau-Winckelmann-Kant.
                   Das ästhetische Programm von Weimar und Jena, das sich in den Jahren um
               1800 bis zur Hybris einer deutschen Sendung für den Menschheitsfortschritt
               aufschwingt,  findet in Berlin keine Entsprechung, obwohl die Berliner durchaus
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               bestrebt sind, Goethe und Schiller, Fichte, Schelling und den Schlegels einiges
               abzulernen. Doch was wirklich in der Stadt geschieht, hat ganz anderen Zuschnitt.
               Wie Langhans die klassizistische Neugestaltung der Stadt einleitet, habe ich
               schon beschrieben. Ein weiteres Beispiel dafür wäre Wilhelm von Humboldt,
               der 1793, quasi zur Einweihung des Brandenburger Tors, seinen ersten Antike-




               10  »Maximen  und  Reflexionen«,  in:  Goethes Werke  (Hamburger  Ausgabe),  Bd.  12,  390
                   (Hecker - Nr. 298).
               11  Ernst Osterkamp, Die Götter – die Menschen. Friedrich Schillers lyrische Antike (Münch-
                   ner Reden zur Poesie), München 2006.
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