Page 137 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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Die Klassizität des Urbanen           135

               Differenzierungen verbergen. Klassizisten fühlen sich für das würdige Bühnenbild
               der Bürgerstadt zuständig, Romantiker für die Erkundung und Rechtfertigung
               des Unbewussten, Aufklärer für die zweckhaft-moralische Ordnung der Gesell-
               schaft. Hochfliegende Universalentwürfe des richtigen Lebens wie in Weimar
               und Jena gibt es in Berlin nicht, dafür eine Vielzahl experimenteller und riskanter
               individueller Lebensentwürfe, die sich von der realen Lebensdürre, aber auch
               vom asketischen Geistesflug in Weimar nicht stärker abheben könnten. Eher
               schon gäbe es Parallelen zur À-rebours-Stimmung in Jena, bevor diese sich im
               Neukatholizismus oder im Odium der Lehrstuhlsuche verliert.
                   Das Fazit aus diesen Beobachtungen ist unschwer zu ziehen. In Weimar wird
               die säkulare Kontingenzerfahrung, wie schattenhaft sie dort immer zu spüren
               gewesen sein mag, als entschiedene Bedrohung erlebt: alles dort (die Ortswahl,
               die elitäre Gemeinschaft, das Antike-Paradigma, die Naturreligiosität, die Ge-
               schichtsphilosophie, der genetische Veranlagungskern des Individuums u. a.)
               fügt sich wie zu einem Wall gegen den Ansturm des Partialen und Zufälligen
               (welches letztere Goethe noch in Urworte. Orphisch als zwar konstitutives, aber
               ablenkendes Lebenselement gesehen hat).
                   Natürlich wäre es leichtfertig, den Geist von Berlin allzuweit von dem Wei-
               mars abrücken zu wollen. Weimar-Jena gilt auch den Berlinern als großer Ideen-
               generator, von dem man möglichst autoptisch (als Gast und Partner) profitieren
               will und dafür auch die Weimarer Großstadtverdammung in Kauf, ja notfalls
               übernimmt. Doch ebenso evident ist, dass die Weimarer Ideen in Berlin wenn
               nicht gar versiegen, so doch verändert ankommen. Auffällig ist der schwache
               Widerhall der Schillerschen und Fichteschen Geschichtsphilosophie. Auch Wil-
               helm von Humboldt, der sie an der Quelle studiert hat, bleibt ziemlich immun
               gegen die Versuchung, die Gewissheiten in die Zukunft anstatt in die Gegenwart
               zu verlegen. Ähnlich geht es den spekulativen Selbstbildungskonzepten, die in
               Berlin (Humboldt, Schleiermacher, Kleist) teils in einen pluralen Gesellschafts-
               kontext zurückgeholt, teils mit der Macht des Unbewussten gekoppelt werden
               und dabei einen ausgeprägten Sinn für die Relativität aller Selbstbeschreibung
               entwickeln. 17
                   Nicht zuletzt bewundert man das landschaftlich-personelle Integral, dass
               Goethe in Weimar durch sein Bündnis mit dem Hof geschaffen hat. Auch die
               Berliner haben Landgüter außerhalb der Stadt  ja als Schreib- und Versorgungsorte
               nicht verschmäht, allerdings ohne die Rückbindung aufzugeben. Im auratischen

               17  Die vier fragmentarischen Biografie-Versuche Wilhelm von Humboldts fallen, ihrer un-
                   terschiedlichen Funktion entsprechend, völlig unterschiedlich aus.
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