Page 132 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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130 Conrad Wiedemann
umphbogens gewesen, durch den die Heeressäule aus- und einmarschieren
kann und soll. Das Entstandene ist somit kein Fürsten- sondern ein Bürgertor,
durch dessen Säulenreihe man einzeln oder in Gruppen das Heiligtum betreten
kann. Was das Heilige betrifft, so handelt es sich in Berlin allerdings nicht um
den Götterbezirk, sondern um die zum Park umgestaltete freie Natur vor der
Stadt, in der der Bürger feierabendliche Erholung und Unterhaltung sucht. Als
würdige Passage zwischen Produktions- und Rekreationssphäre und damit als
pathetisches Abbild der aufgeklärten Naturfrömmigkeit ist das Brandenburger
Tor ein Unikum in Europa geblieben. Wäre der mittlere der fünf Säulenabstände
nicht eine Spur breiter als die anderen, wäre es auch ein völlig egalitäres Gebilde.
Doch so weit wollte Langhans offensichtlich nicht gehen. Es hätte ja auch nicht
der Realität entsprochen.
Während das Brandenburger Tor schnell zum berühmtesten Bau der Stadt
Berlin avanciert, bleibt das 6 Jahre später von Goethe in Weimar begonnene
Propyläen-Projekt (seit 1798) ohne die erhoffte Wirkung. Was Goethe vom Bran-
denburger Tor gedacht hat, wissen wir nicht, denn nirgendwo in seiner neuen
Zeitschrift wird es auch nur mit einem Wort erwähnt. Das ist schon deshalb
erstaunlich, weil die Botschaft des Tores und das Programm der Zeitschrift nicht
sonderlich weit auseinander liegen. Auch Goethe geht davon aus, dass die antike
Kunstschönheit uns in ein Vertrauensverhältnis zur Natur zurückführen soll. Auf
philosophischer Ebene hatte er das gemeinsam mit Schiller schon in den Horen
vertreten, wobei Schillers kühne geschichtsphilosophische Spekulation freilich
weitgehend unverstanden blieb. Dafür hatte man sich mit den Xenien gerächt,
die bekanntlich ein einziger Mediokritätsvorwurf an die deutsche Bildungswelt
sind. Jetzt, in den Propyläen, soll ein zweiter Versuch mit sehr viel pragmatische-
ren Mitteln unternommen werden. Nicht mehr der »Mensch«, wie bei Schiller,
soll ästhetisch erzogen werden, sondern nur noch der bildende Künstler, d. h.
die Maler und Bildhauer aus der klassizistischen Fraktion. Ihnen will Goethe
Sinn und Zweck seiner eigenen naturwissenschaftlichen Studien nahebringen.
Wieder haben wir es, wie schon in den Horen und in der Turmgesellschaft des
Wilhelm Meister (1796), mit einem Erziehungskartell zu tun, diesmal mit einem
kleinen und erlesenen, weil romerfahrenen Freundeskreis, der sich symbolisch
auf der Schwelle zur Akropolis, also der Griechenreligion, angesiedelt hat. Die
selbstgewissen Präzeptoren, es handelt sich um Goethe, Meyer und Fernow,
schreiben sogar Kunstpreise aus, was zur Folge hat, dass sie fünf Jahre lang zweit-
und drittklassige Einsendungen zu bewerten und auszustellen haben, was sie mit
diszipliniertem Ernst auch tun.