Page 138 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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136 Conrad Wiedemann
Weimar will jeder gewesen sein, aber keiner sich festsetzen. Tieck, der, enttäuscht
von Berlin, ins zu ferne Ziebingen flieht, büßt es mit dem Verlust seiner Schaf-
fenskraft. Erst in Dresden findet er zu ihr zurück. Offensichtlich kann keiner
die kulturelle Matrix der Urbanität wirklich entbehren.
Im anderen Lebensgefühl von Berlin wird Kontingenz weniger als Bedrohung
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denn als Freisetzung pluraler Kräfte erfahren. Dass dieses Lebensgefühl (a) nicht
anhielt, sondern durch die Restauration wieder obrigkeitsstaatlich gebrochen
wurde, und (b) dem kulturellen Gedächtnis der Deutschen nichts wert war, hat
sicher zur Modernisierungsverzögerung der Nation und mancherlei anderen
Anfälligkeiten beigetragen.
Berlin: ›klassisch‹ und klassisch
Ich habe bisher wenig vom europäischen Kontext meines Themas gesprochen.
Gemeint ist damit der transnationale Klassizismus des 18. Jahrhunderts, der den
scheinbar zeitenthobenen Formenschatz des antiken Erbes zwar nicht letztma-
lig, aber doch letztmals übergreifend für die Legitimation des Zeitgeistwandels
eingesetzt hat. Dieser Zeitgeistwandel war, im Gegensatz zu seinen Vorläufern
im Renaissance-Humanismus und barocken Absolutismus, bekanntlich ein
bürgerlicher, oder genauer: ein ganzes Bündel von bürgerlichen Freiheits-,
Natürlichkeits-, Schönheits- und Individualitätsansprüchen, aus dem sich sehr
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unterschiedliche nationale Profile formen ließen. Dass die Deutschen dabei
erstmals eine zentrale Rolle spielten, verdankt sich dem Genie Winckelmanns,
aber nicht minder dem seiner Schüler Goethe, Heinse, Schiller, Friedrich Schlegel,
Moritz und Wilhelm von Humboldt, die freilich, von Humboldt und wohl auch
Moritz abgesehen, eine Auslegung des Meisters bevorzugten, die vom westeu-
ropäischen Weg deutlich abwich. Während in Frankreich, England und den
Vereinigten Staaten Klassizismus und bürgerliche Revolution eine enge Liaison
eingingen, verbanden sich in Deutschland Klassizismus, Transzendentalismus
und Geschichtsphilosophie zu einer Kulturvision unter Ausschluss der Politik.
Jedenfalls scheint es so, wenn man den Klassizismus der Weimarer Dioskuren
18 Dazu und zu anderen Aspekten der Kontingenzproblematik vgl. Michael Makropoulos,
Kontingenz (ungedrucktes Manuskript, das dem Verfasser vorlag).
19 Vgl. Salvatore Settis, Die Zukunft des Klassischen. Eine Idee im Wandel der Zeiten, Berlin
2004, besonders Kapitel 8-10.