Page 139 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
P. 139

Die Klassizität des Urbanen           137

               und den romantischen Idealismus Jenas nationalkulturell kanonisiert, wie es ja
               geschehen ist.
                   Deshalb muss die Schlussbetrachtung noch einmal Berlin gehören. Und das
               nicht nur, weil Weimar-Jena fast erschöpfend, Berlin hingegen so gut wie nicht
               erforscht ist. Ich beginne mit dem Zentralereignis der politischen Reformen. Wie
               erklärt es sich, dass nach 1806 in Berlin quasi unversehens eine hochqualifizierte
               Reformergruppe bereitsteht, die Bauernbefreiung, Bodenreform, Gewerbefrei-
               heit, kommunale Selbstverwaltung, allgemeine Wehrpflicht, Judengleichstellung
               und Universitätsgründung auf einmal auf die Agenda setzt und zum Teil auch
               realisiert? Damit meine ich nicht die äußeren Umstände, also die militärische
               Demütigung durch Napoleon und die darauf folgende diplomatische Demüti-
               gung, die den preußischen Staat bekanntlich an den Rand des Ruins brachte.
               All das ist oft rekapituliert worden und steht außer Frage. Unbezweifelbar ist
               allerdings das geistige Milieu, aus dem ein so weitreichendes Reformprogramm
               allein hervorwachsen konnte – ein Programm, das sicher nicht als »Erfindung
               des modernen Staats« figurieren kann , aber immerhin darauf zielte, den de-
                                              20
               kretierenden Staat auf die Selbstbestimmung und Mitwirkung seiner Bevölke-
               rung umzustellen und damit aus den bisherigen Untertanen (»Landeskindern«)
               moderne Bürger zu machen. Ein solches Programm lässt sich nicht einfach aus
               dem Schock einer Katastrophe ableiten. Jena und Auerstedt mag die politischen
               Neuerer in ihrer Überzeugung bestätigt und ihre Kräfte gebündelt haben, aber
               der Geist der Erneuerung stammt fraglos aus einer anderen Geschehensdynamik,
               die keine andere sein kann, als die von mir beschriebene. Und da die traditionelle
                                                                  21
               Geschichtsschreibung (Ausnahme: der junge Friedrich Meinecke ) bislang wenig
               darüber zu sagen wusste, ist wohl der kulturhistorische Einspruch vonnöten.
               Er lautet: Ohne den kulturellen Aufbruch von 1786 bleibt der politische von
               1806/07 ohne Basis.
                   Natürlich hat diese Bürgerkultur nicht die innere Konsistenz der Reformen.
               Der Aufstand gegen die Konvention, den sie probt, verrät keine einheitlichen
               Wurzeln und anscheinend auch keine einheitliche Stoßrichtung. Gemeinsam ist
               zunächst nur das individuelle Gespür für das, »was auch anders möglich ist«.
                                                                              22
               Dieses Gespür löst allerdings einen vielgestaltigen  Innovationsschub aus. Ihm



               20  Vgl. Der Spiegel vom 13. 8. 2007 (Titel-Essay).
               21  Vgl. F. M., Das Zeitalter der deutschen Erhebung, Leipzig o. J. (zuerst 1906).
               22  So der auf Aristoteles zurückgehende locus classicus der modernen Kontingenz-Definiti-
                   on.
   134   135   136   137   138   139   140   141   142   143   144