Page 134 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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132                      Conrad Wiedemann

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                 Essay  schreibt und dabei klar zu erkennen gibt, wo sein Interesse liegt. Es ist die
                 athenische Polis, genauer: die Erfahrungsvielfalt und öffentliche Kompetenz des
                 ›polites‹, aus denen er sein Ideal von Individualitätsbildung ableitet. Nur ein Jahr
                 später definiert er auch die Rolle, die dem Staat in diesem liberalen Selbstkonsti-
                 tutionsprozess seiner Bürger zukommt – nämlich Schutz zu gewährleisten ohne
                 erzieherisch einzugreifen. An konkreten Beispielen lässt er es nicht fehlen. Der
                 Emanzipationsweg vom Untertanen zum Bürger beruht für den jungen Wilhelm
                 von Humboldt auf höchstmöglicher Selbstorganisation und beginnt, wie schon
                 in der griechischen Antike, im urbanen Milieu. Die Brüder Humboldt waren
                 von Kindheit an Stadtmenschen und sind es zeitlebens geblieben. Ihr riesiges wis-
                 senschaftliches Lebenswerk entstand in der offenen Gesellschaft und ist auf diese
                 bezogen. Nicht viel anders verhält sich Karl Philipp Moritz, wenn er seine mit
                 Goethe zeitgleiche Italienreise vorwiegend für das Studium der Landesmentalität,
                 der antiken Volksfrömmigkeit und schließlich der angemessenen Hermeneutik
                 einer ästhetischen Großstadtwahrnehmung nutzt. An Goethes Naturstudium
                 und Wiedergeburts-Pathos hat er nicht angeknüpft. Ebenfalls zur gleichen Zeit
                 findet der junge Schadow in Rom und Berlin zu einem bildhauerischen Klas-
                 sizismus, der – wenn möglich – alle Attribute der Macht, des Standes und des
                 Amtes verschmäht und eine Physiognomik des individuell Charakteristischen
                 anstrebt, die seinen Bildwerken ein bürgerliches Flair verleiht. Nimmt man hinzu,
                 dass durch Gedikes und Humboldts Konzept des Humanistischen Gymnasiums
                 die Antikekenntnis zum Fundament aller höheren Bildung in Preußen wird
                 und auch Humboldts Reformmodell der autonomen Forschungsuniversität die
                 Altertumswissenschaft zur Leitwissenschaft erhebt, dann erscheint die klassische
                 Orientierung im damaligen Berlin nicht weniger originär, allerdings in mancher
                 Hinsicht pragmatischer und erfolgreicher als die Weimars.



                                 Entfremdung versus Kontingenz


                 Die epistemologische Ordnung, nach der um 1800 die Rolle der klassischen
                 Antike verhandelt wird, unterscheidet sich in Weimar und Berlin also beträcht-
                 lich. Während im rousseauisch infizierten Weimar das klassische Griechentum


                 12  Vgl. Conrad Wiedemann, Deutsche Klassik (wie Anm. 5).
                 13  Wilhelm von Humboldt, Über das Studium des Alterthums, und des griechischen insbeson-
                    dere, in: Werke in fünf Bänden, hg. v. Andreas Flitner und Klaus Giel, Darmstadt 1961,
                    Bd. 2, 1-24.
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