Page 130 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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128                      Conrad Wiedemann

                                 Das Geschlossene und das Offene

                 Man braucht nur ein paar Kapitel in Theodore Ziolkowskis bemerkenswertem
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                 Buch über das Berlin von 1810  gelesen zu haben, um das entschiedene Mehr
                 an gesellschaftlicher und geistiger Homogenität zu spüren, das über Weimar
                 und Jena liegt. Mit Weimar verbinden wir zwar suggestiv die Vorstellung des
                 organisch Gewachsenen (Stichwort: Landschaft), doch in Wirklichkeit ist es
                 eine reine, vornehmlich von Goethe geschaffene Kunstfigur, eine Art ›Exzellenz-
                 Cluster‹ von vier zusammengeholten Berühmtheiten, die sich über die ästhetische
                 Erziehung zu einer freien Individualität (Stichwort: Humanität) verständigen
                 wollen. Der Zugang ist ziemlich streng kontrolliert, denn natürlich drängen
                 immer wieder begabte Köpfe unter diese Höhensonne, die aber nur bleiben
                 dürfen, wenn sie sich als Subaltern-Helfer der vier Großen bewähren. In Jena ist
                 es etwas anders, aber nicht sehr. Die dort entstandene Elitegruppe ist offener und
                 jünger rekrutiert als die weimarische, so offen und jung, wie es eine Universität
                 zulässt. Aber das ist nicht entscheidend. Der Zugang, auf den es ankommt, ist
                 nämlich ebenfalls streng geregelt und hängt von der Fähigkeit ab, sich in den
                 Transformationsdiskurs der idealistischen Kantkritik einzuschalten. Man muss
                 mithalten können in einem Think tank, der damals ebenfalls seinesgleichen
                 in Europa suchte. Auch hier gibt es einen Platzhirsch wie in Weimar. Er heißt
                 Fichte – und als dieser 1799 gehen muss, zerfällt die schlechtbesoldete Gruppe
                 innerhalb weniger Jahre. Der einzige Dichter dieser Gruppe, Novalis, ist ein
                 Fast-Externer. Dass er trotzdem dazugehört, hängt allein daran, dass auch er den
                 akademischen Diskurs beherrscht.
                    Im Gegensatz dazu präsentiert sich die Kulturszene Berlins als etwas für
                 Deutschland gänzlich Untypisches: eine offene Stadt, in der die bürgerliche
                 Kultur sich entschieden von der höfischen gelöst hat. Wenn es stabile Elemente
                 in ihr gibt, dann sind es die vier neuhumanistisch ausgerichteten Gymnasien
                 und die zwei klassizistisch ausgerichteten Akademien. Ansonsten scheint wenig
                 geregelt. Niemand, auch nicht die protestantische Superintendenz, kontrolliert,
                 ob man den als Religionsleugner verdächtigten Fichte aufnehmen soll oder nicht.
                 Er kommt ganz einfach und hält schon wenig später öffentliche Vorlesungen vor
                 einem wissbegierigen Stadtpublikum, so wie es wenig vorher Friedrich Schlegel
                 und wenig später August Wilhelm Schlegel tun. Platzhirsche gibt es in Berlin


                 9   Vgl.  Theodore  Ziolkwoski,  Berlin.  Aufstieg  einer  Kulturmetropole  um  1810,  Stuttgart
                    2002.
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