Page 129 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
P. 129

Die Klassizität des Urbanen           127

               zu Weimar-Jena sind es viele und sie stammen aus sehr verschiedenen Disziplinen:
               aus Literatur, bildender Kunst, Philosophie, Politik und Wissenschaft, während
               in Weimar-Jena ausschließlich Schriftsteller und Philosophen (»Dichter und
                       6
               Denker«)  am Werk sind.
                   Dass ich in meiner Aufzählung zwischen Klassizisten und Romantikern nicht
               unterschieden habe, liegt daran, dass ich die Romantik als idealismusinterne
               Sezession vom deutschen Klassizismus verstehe,  was sich in der räumlichen
                                                       7
               Nähe durchaus nicht zufällig spiegelt. Letzteres wäre überflüssig zu bemerken,
               wenn der so evidente Befund, dass nämlich die Zentren der klassizistischen
               Mobilisierung in Deutschland mehr oder minder zeitgleich auch die Entste-
               hungsorte der Romantik sind, in der Fachliteratur nicht weitgehend unbeachtet
               wäre. Dort ist zwar der klassisch-romantische Kontrapost von Weimar und Jena
               präsent, nicht jedoch das Berlinische Analogon, durch das der Sachverhalt nicht
               nur seine Zufälligkeit verliert, sondern auch eine topografisch begründete Dif-
               ferenzierung in eine akademisch-theoretische und eine dichterische Romantik
               erfährt, welche letztere, wie Marianne Thalmann schon früh gezeigt hat,  aus
                                                                           8
               einem typisch großstädtischen Kulturbetrieb hervorgeht. In Jena ist man sich
               dieses Unterschieds durchaus bewusst. Nicht nur, dass Friedrich Schlegel sein
               einzig bedeutendes dichterisches Werk, den Roman Lucinde, einem Berlinauf-
               enthalt verdankt; auch die Einladung Ludwig Tiecks nach Jena hat den Zweck,
               die Kluft zwischen Theorie und Poesie zu schließen. In ähnliche Richtung zielt,
               dass Novalis seinen dichterischen Nachlass nicht einem der Brüder Schlegel,
               sondern dem Berliner Dichterkollegen Tieck übergeben hat. Dies vorausgesetzt,
               sei die kulturtopografische Differenz von Weimar-Jena und Berlin noch einmal
               ins Auge gefasst.










               6   Über die Frage, warum die nationale Pathosformel »Dichter und Denker« an der bil-
                   denden Kunst und vor allem an der Musik vorbeigeht, habe ich nichts Erhellendes
                   gefunden.
               7   Vgl. auch Sabine Schneider, Klassizismus und Romantik – zwei Konfigurationen der einen
                   ästhetischen  Moderne.  Konzeptuelle  Überlegungen  und  neue  Forschungsperspektiven,  in:
                   Jean Paul Gesellschaft 37 (2002) 86-128.
               8   Vgl. Marianne Thalmann, Romantiker entdecken die Stadt, München 1965.
   124   125   126   127   128   129   130   131   132   133   134