Page 128 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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126                      Conrad Wiedemann

                    In einem zweiten Ansatz, der dem Konferenzthema und nicht etwa meiner
                 Kompetenz geschuldet ist, habe ich – mehr oder minder feuilletonistisch – meine
                 Beobachtungen über die Enthistorisierung, Pragmatisierung und Inflationierung
                 des Wortfelds »klassisch/Klassiker« im gegenwärtigen Sprachgebrauch dargelegt.
                 Dass neue »Klassiken« dabei nicht mehr vorkommen, mag mit der sich ändernden
                 Rolle der Nationalstaaten zusammenhängen und der postkolonialistischen Scheu,
                 kulturelle Hegemonien einzugestehen. Jeder weiß, dass die klassische Moderne
                 eine reine Westkunst ist, aber nur wenige sprechen davon.
                    Diese halbunfreiwillige Exposition wäre sinnlos, wenn ich sie nicht im Sinn
                 eines Experiments nutzen wollte. Hermeneutisch ist das sicher unbedenklich,
                 denn wie deutlich uns auch die semantischen Differenzen von 1800 und 2000
                 vor Augen stehen mögen, so  bleiben wir doch Kinder unserer Zeit, die sich
                 den pragmatisierten Begriff des Klassischen längst einverleibt haben. Klassizität
                 damals und heute, Antikebezug und bloße Nachhaltigkeit lassen sich auch für
                 den historisch Gebildeten wohl nicht mehr trennen. Nach dem ›Klassischen‹ an
                 Weimar und Berlin fragend, können wir nicht sicher sein, was uns stärker leitet:
                 ihre Rolle in der Geschichte der Antikerezeption oder ihr Beitrag zur Konstitu-
                 tion der Moderne. Trotzdem müssen wir uns natürlich auf jenen herkömmli-
                 chen Klassikbegriff einlassen, der sich aus Antikebezug und nationalkultureller
                 Mobilisierung im Sinne der Theorie einer Translatio studii zusammensetzt.
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                 Für Weimar muss dieser Zusammenhang nicht nachgewiesen werden. Die vier
                 klassischen Genies von Weimar und die sechs idealistisch-romantischen Genies
                 der Jenaer Gegenkultur sind von der Geschichtsschreibung längst im Sinn ei-
                 nes nationalen Doppelsternbilds kanonisiert. Mit den Berlinern verhält es sich
                 anders. Auch hier fehlt es nicht an Genies, doch wurden sie von uns bislang
                 nicht als kulturelles Biotop gedacht. Hier muss man deshalb Namen nennen,
                 und wären es nur die wichtigsten. Zu ihnen zähle ich Wilhelm und Alexan-
                 der von Humboldt, Moritz, Tieck, Wackenroder, Kleist, Achim von Arnim,
                 E. T. A. Hoffmann, Rahel Varnhagen, Bettina von Arnim, Schleiermacher, Fichte,
                 Maimon, Langhans, Schadow, Schinkel, Gentz, Stein, Hardenberg, Clausewitz,
                 Wolf, Boeckh, Savigny, Zelter und Niebuhr. Ob ich einen vergessen oder den
                 einen oder anderen zu hoch bewertet habe, spielt hier keine Rolle. Im Gegensatz


                 5   Vgl. Franz Worstbrock, »Translatio artium«. Über Herkunft und Entwicklung einer kul-
                    turhistorischen Theorie, in: Archiv für Kulturgeschichte 47 (1965), 1-22. – Zur deutschen
                    Rezeption vgl. Conrad Wiedemann, Deutsche Klassik und nationale Identität. Eine Revi-
                    sion der Sonderwegs-Frage, in: Wilhelm Voßkamp (Hg.), Klassik im Vergleich. Normativi-
                    tät und Historizität europäischer Klassiken, Stuttgart; Weimar 1993, 541-569; hier: 547f.
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