Page 127 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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Die Klassizität des Urbanen           125

               kometengleich am Himmel aufgetauchten »klassischen Moderne«, mit der sich
               der obsessive Modernitätsdiskurs meiner Generation quasi eine Antike sui generis
               geschaffen hat, die wohl als Wasserscheide zu einer dezidiert vormodernen Welt
               mit anderen, quasi fremdgewordenen Klassizitäten und Kanons gedacht ist.
                   Nur am Rande sei bemerkt, dass dieser Analogiebildung zur alten »Querel-
               le« künstlerische, literarische und musikalische Kanons entwachsen sind, deren
               Exklusivität (oder Willkür) ich nichts an die Seite zu setzen wüsste. Wer mehr
               als zwei Museen der modernen Kunst besucht hat, wird die Klassiker- und Ka-
               nonsucht der neuen Museumsmacher mit einiger Verwunderung konstatieren. Es
               sind immer dieselben vierzig Namen zwischen Picasso und Beuys, die uns dort
               von Wand und Fussboden grüßen, zaghaft ergänzt durch einige lokale Favoriten.
               Ähnlich konnte sich in Deutschland, von wenigen Musiktheoretikern dekretiert,
               jahrzehntelang ein streng zwölftonzentrierter Moderne-Kanon halten. Wer ein
               Faible für Strawinsky oder Orff, Schostakowitsch oder Bartók hatte, war schlecht
               beraten. Jeder weiß, dass solche kulturellen Nullpunkt-Genealogien gewaltsam
               sind, aber jeder lässt sich davon beeindrucken.
                   Betrachtet man die akademischen Sehnsüchte nach einer »klassischen Mo-
               derne« als Sonderfälle, dann bleibt ein Sprachgebrauch übrig, der das Klassische
               als konstruktiven Orientierungsbegriff einsetzt – weitgehend pragmatisch, säkular
               und ubiquitär. Oder noch allgemeiner: als »klassisch« bezeichnet der moderne
               Sprachgebrauch offensichtlich Formen und Ideen, die nachhaltig gewirkt haben
               oder noch wirken. Über damit verbundene Ideologien und Lobbyismen ergeht
               primär keine Auskunft.



                                Weimarer und Berliner Klassizität

               Mit meinem doppelten Ansatz habe ich es mir schwer gemacht. Ich habe zunächst
               eine etwas leichtfertige These aufgestellt, nach der die Kulturblüte von 1800, die
               vor Zeiten Deutsche Klassik hieß, in zwei inhaltlich vergleichbare, aber soziokul-
               turell unterschiedene Entitäten zerfällt – nämlich eine Weimarer Klassik, die die
               Konstitution moderner Individualität unter den Bedingungen einer gewollten
               Macht- und Gesellschaftsferne erprobt, und eine prospektive Berliner Klassik, die,
               wenn nicht dasselbe, so doch etwas ziemlich Ähnliches unter den Bedingungen
               einer historisch avancierten Urbanität, also macht- und gesellschaftsnah, versucht.
               Die verweigerte historiografische Wahrnehmung der letzteren habe ich mit einer
               mentalen Metropolenablehnung in Deutschland begründet.
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