Page 125 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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Die Klassizität des Urbanen 123
das Weimar als Stadt oder Residenz beträfe? Die Städte, und allzumal die großen,
von denen es anderswo heißt, dass aus ihnen alle Emanzipationsbewegungen
der Moderne hervorgegangen seien, hatten es bei uns auffällig schwer – mögli-
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cherweise, weil sie nach dem Dreißigjährigen Krieg lange stagnierten – aber sie
hatten es fast noch schwerer, als sie, wie Berlin und später Wien, als Großstädte
wieder deutlich hervortraten. Sie wurden nicht nur nicht geliebt, sie galten auch
als wesensfremd. Was nicht heißt, dass man von fremden Metropolen – Paris,
London, später New York – nicht fasziniert gewesen wäre. Aber diese gehörten
quasi einem anderen mentalen System an. Dass Berlin um 1930 die drittgrößte
Stadt der Welt war, wissen heute nur noch wenige. Aber vermutlich sollte man
es wissen, weil es bezeichnenderweise zugleich die Zeit der heftigsten kulturellen
Vorurteile gegen die Metropole war. Im übrigen erschien gerade 1925 Rudolf
Borchardts berühmte Anthologie Der Deutsche in der Landschaft.
Klassizität – modern
Ich unterbreche hier meine mentalitätsgeschichtlichen Spekulationen und wende
mich dem Begriff der Klassizität und seinem heutigen Gebrauch zu. Nicht wenige
meiner Kollegen, vor allem die älteren, die den Begriff mit der Orientierung
an der griechisch-römischen Antike zusammendenken, halten ihn – wegen der
verloren gegangenen Bildungsvoraussetzungen – für abgewirtschaftet. Wie an
allen Resignationsformeln ist auch an dieser irgend etwas Wahres und mancherlei
Falsches. Sicher sind die alten Sprachen ziemlich exklusiv geworden und damit
auch die Kenntnisse von der klassischen Antike erheblich zurückgegangen. Wer
noch das alte Humanistische Gymnasium, wie es von Friedrich Gedike und
Wilhelm von Humboldt in Berlin geschaffen wurde, absolviert hat, mag das
bedauern. Auch dass Namen wie Homer und Vergil, Sophokles und Seneca,
Sappho und Horaz nicht mehr als zusammengehörig, als Kanon, erkannt werden.
Doch das ist eben nicht das Ganze. Weder das Theater noch die Philosophie
haben ihre antiken Wurzeln gekappt, und was die antike Mythologie betrifft, so
hat sie durch Sigmund Freud eine Aktualisierung erfahren, die im 19. Jahrhun-
dert vermutlich noch nicht erahnbar war. Nehmen wir noch den anscheinend
3 Vgl. Etienne François, Das Zeitalter der »Haupt- und Residenzstädte«, in: Bénèdicte Sa-
voy (Hg.), Tempel der Kunst. Die Geburt des öffentlichen Museums in Deutschland 1701–
1815, Mainz 2006, 27-33.