Page 126 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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124                      Conrad Wiedemann

                 zeitlosen Abenteuerspielplatz Archäologie hinzu, dann lässt sich – bei aller
                 eingestandenen Ausdünnung der Wissensbreite – vielleicht sogar so etwas wie
                 ein revidierter Kanon konstatieren. Da aber Kultur nur durch Kanonrevisionen
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                 lebendig bleibt,  scheint mir mein Rettungsbefund gar nicht so dürftig. Sicher,
                 in der sich hindehnenden »Querelle des anciens et des modernes« hat die Antike
                 à la longue den Kürzeren gezogen, aber immer noch gibt es Bildungsdiskurse,
                 für die sie wichtig ist.
                    Obwohl ich zu den Antike-Nostalgikern gehöre, scheint mir ein anderer
                 Aspekt des Klassizitätsbegriffs noch denkwürdiger. Gemeint ist seine moderne
                 Ablösung von jeglichem antiken Inhalt. Wann dieser Prozess begonnen hat,
                 habe ich nicht geprüft, doch es könnte sein, dass er einen langen Vorlauf hat.
                 Tatsache ist jedenfalls, dass die Begriffe ›klassisch‹ und ›Klassiker‹ heute durchaus
                 nicht tot sind. Im Gegenteil, sie begegnen einem an allen Ecken und Enden,
                 in der Sprache der Wissenschaft so gut wie in der Alltagssprache, was natür-
                 lich den Schluss nahelegt, dass ihnen irgendeine wichtige Funktion innerhalb
                 der euphorisch taumelnden Wissensgesellschaft zukommt. Die überbordende
                 Waren- und Designwelt der Gegenwart wird nämlich nicht nur durch ständig
                 erneuerte Ranglisten, Charts und Warentests reguliert, sondern auch durch so
                 etwas wie minimierte Ursprungs- und Originalitätsmythen, die längere Gültigkeit
                 suggerieren und den Dingen einen Hauch von geschichtlicher Tiefe verleihen.
                 Hier sind die Begriffe Klassiker und klassisch gefragt. Es gibt Klassiker der Auto-,
                 Motorrad-, Turnschuh- und Teddybärenproduktion, es gibt klassisch gewor-
                 dene Sitzmöbel, Wasserhähne und Türklinken, und es gibt »Cola classic«, von
                 Film- und Comicstrip-Klassikern gar nicht zu reden. Nicht wesentlich anders
                 halten es die Wissenschaftler, die ständig Klassiker der Sprachphilosophie, der
                 Religionswissenschaft, der Soziologie oder der Ethnologie in kanonbildenden
                 Sammelbänden kreieren und mit ihren Studenten unverzagt von klassischen
                 Fehlleistungen und klassischen Theorieansätzen sprechen. Da die Tendenz eher
                 zunimmt, könnte man meinen, es hätte noch nie so viel Klassisches und noch
                 nie eine solche Vorliebe für Partial- und Minimal-Kanons gegeben wie in der
                 sogenannten Wissensgesellschaft der Gegenwart. Mitunter placken diese Kon-
                 struktionen (oder sind es Rekonstruktionen?) auch ins Große, wie im Falle der



                 4   Vgl. Gottfried Willems, Der Weg ins Offene als Sackgasse. Zur jüngsten Kanon-Debatte
                    und zur Lage der Literaturwissenschaft, in: Gerhard K. Kaiser, Stefan Matuschek (Hg.),
                    Begründungen und Funktionen des Kanons. Beiträge aus der Literatur- und Kunstwissen-
                    schaft, Philosophie und Theologie, Heidelberg 2001, 217-268.
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