Page 124 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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122                      Conrad Wiedemann

                 Klassizität darf die seit 1786 zu einer quasi wildwüchsigen Kulturblüte erwachte
                 Großstadtgesellschaft für sich geltend machen? Und wird dort möglicherwei-
                 se sogar so etwas wie der Wertekanon einer protodemokratischen Urbanität
                 sichtbar? Die Gegenfrage dazu existiert nur in meinem Kopf, denn sie ist in
                 Deutschland untersagt. Sie heißt: Wieviel und welche Klassizität lässt sich für die
                 quasi arbiträre Kulturblüte eines provinzialen Musenhofs und einer provinziellen
                 Universitätsstadt geltend machen? Und wird hier möglicherweise so etwas wie
                 der Wertekanon einer Individualkultur der Weltabgewandtheit sichtbar? Dass
                 die Berlin-Frage ein Wagnis und die Weimar-Frage ein Sakrileg ist, hat zweifellos
                 mit einer deutschen reservatio mentalis zu tun, nach welcher ein politisches Zen-
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                 trum dem Nationalgefühl widerspricht, ein geistiges Zentrum hingegen nicht.
                 Aber auch das ist noch missverständlich ausgedrückt. Denn nimmt man den
                 deutschen Dezentralismus als gegeben, weil über tausend Jahre lang eingeübt,
                 an, dann betrifft er natürlich Politik und Kultur gleichermaßen. Beide sind in
                 Deutschland per definitionem (»teutsche Libertät«) polymorph, was in der Politik
                 im Begriff des Bundes weiterlebt, in der Kultur im teils belächelten, meist aber
                 gepriesenen Stadttheatermodell. Der Unterschied besteht darin, dass ein poli-
                 tisches Zentrum hierzulande stets unter Vorbehalt steht, ein geistiges Zentrum
                 jedoch wünschenswert erscheint, wenn es den Beweis antritt, dass Provinzialität
                 nicht »provinziell« sein muss. Dass sie das nicht sein muss, ist bekannt, aber es
                 gibt wenige Beispiele dafür auf der Welt, die so glanzvoll ausgefallen sind wie
                 Goethes Weimar. Deshalb lieben wir auch jene Bibelweisheit, die die jüdischen
                 Wanderpropheten gegen die Tempelverwalter geltend gemacht haben, nämlich
                 dass der Geist wehe, wo er will.
                    Luthers Reformation, Keplers Planetenberechnungen, Leibnizens Monado-
                 logie, Kants Kritizismus und Schillers Idealismus sind alle nicht von Orten der
                 Macht oder Pracht ausgegangen, und spätestens seit dem Siegeszug des ›deutschen
                 Lieds‹ und der realistischen Novelle haben wir auch einen Namen für unsere
                 kulturtopografische Bestimmung. Es mag zutreffen, dass »Landschaft« durch die
                 Romantik zum deutschen Zauberwort wurde. Doch die entscheidende Weichen-
                 stellung geht zweifellos auf Goethes Entscheidung für Weimar zurück, das er ganz
                 und gar als »Landschaft« begriff. Oder kennen wir ein einziges Gedicht von ihm,



                 2   Vgl. Conrad Wiedemann, Wie rekonstruiert man eine vergessene Großstadtkultur? Vor-
                    überlegungen zu einer Aufsatzreihe zum »klassischen Berlin«, in: Berichte und Abhandlun-
                    gen der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, 10/2006 (2007), 223-238,
                    hier: 226ff.
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